Die letzten Stunden eines der wärmsten Januare seit Anbeginn der Temperaturmessung tröpfeln dahin und ganz nebenbei wurde entschieden, welche Geschichte die Beste für diesen Monat ist.
Was soll ich sagen. Sehen Sie selbst:
Welche Geschichte ist Ihr Favorit für den Januar?
Eiskalter Engel
Entgültige Entscheidung
Von Worten und vom Austausch
Die Entscheidung
0% (0 Stimmen)
Diebisch
Unkraut vergeht nicht
Die 50 Cent Frage
Insgesamt: 100% (15 Stimmen)
Diese Abstimmung wurde am 2007.01.31, 22:47 beendet.
Ein klares Votum für Von Worten und vom Austausch und das zu recht. Mir persönlich wäre es natürlich viel viel lieber gewesen, Sie hätten für eine andere Geschichte gestimmt, aber lassen wir das ;-) Sie hatten mit Ihrer Wertung vollkommen recht. Diese Geschichte ist klasse!
Sind wir nun auf das Outing gespannt. Wer hat uns dieses wundervolle Stück Text geschenkt? Man möge sich zu erkennen geben und im Zuge dessen auch gleich einen neuen Anfang für den Februar kredenzen. Vorab schon mal von mir: Herzlichen Glückwunsch!
Januar 2007 ... link
So ist das mit den Aufrufen. Manchmal zeigen sie Wirkung und somit gibt es diesen Monat dankenswerterweise gleich sieben Geschichten. Klasse! Vielen Dank an die Autoren!
Jetzt ist Ihre Mitarbeit gefragt: Welche der sieben Geschichten gefällt Ihnen am Besten. Lesen Sie, genießen und entscheiden Sie. Ich wünsche Ihnen viel Spaß dabei. Die Abstimmung endet am Mittwoch, den 31. Januar (gegen 21 Uhr).
...und sollten Sie zwei Favoriten haben und sich nicht entscheiden können, empfehle ich "Kopf oder Zahl".
Welche Geschichte ist Ihr Favorit für den Januar?
Eiskalter Engel
Entgültige Entscheidung
Von Worten und vom Austausch
Die Entscheidung
0% (0 Stimmen)
Diebisch
Unkraut vergeht nicht
Die 50 Cent Frage
Insgesamt: 100% (15 Stimmen)
Diese Abstimmung wurde am 2007.01.31, 22:47 beendet.
Januar 2007 ... link
"Zum letzten Mal: Kopf oder Zahl?" fragte sie noch einmal, bevor sie die Münze in die Luft warf. Er schaute sie verzweifelt an, ließ den ekelhaft warmen Speichel die Kehle hinunterrauschen, so dass im Kehlkopf ein demonstrativ übertriebenes, glurksendes Geräusch entstand. Langsam, aber sicher schnitten sich die Plastikschnüre, mit denen seine Hände schon viel zu lange hinter der Stuhllehne fixiert waren, in die bereits wundgeriebene Haut ein. Sie war in ihrem Element, das konnte sie, dies war ihr Geschäft: Jagen, Quälen, Erpressen und am Ende, tja, das Ende war immer offen.
Ihr fast regloses, faltenloses, glattes Gesicht näherte sich dem seinen. Er schaute angsterfüllt in ihre klaren, hellen Augen und versuchte ihrem Blick, der alles und jeden scheinbar problemlos zu durchdringen schien, standzuhalten. Ihr Atem roch nach der letzten Zigarette, die sie genüßlich geraucht hatte, nachdem sie ihn auf dem Stuhl kunstvoll und mit Hingabe befestigt hatte. Er spürte keinen Knochen mehr, alles war reiner Schmerz und seine Beine wurden langsam taub.
"Mach dir nicht in die Hosen, Mann. Du hälst dich doch für einen, oder? Du hast dir die Scheiße selbst eingebrockt, Alter, nun darfst du sie auch schön allein wieder auslöffeln. Komm schon, Kopf oder Zahl? Leben oder Tod? Ergib dich endlich deinem Schicksal, du Memme."
Von Anfang an hatte er Angst vor ihr, eine tief sitzende Angst, die er immer wieder ungeschickt zu verbergen versuchte. Doch er wusste, dass sie so etwas instinktiv spürte. Seine Schwäche, seine Furcht und natürlich sein Begehren. Etwas unbeschreibliches an ihr reizte ihn und nur deshalb hatte er sich auf ein paar Geschäfte mit ihr eingelassen. Bei ihrem ersten Zusammentreffen trug sie diesen viel zu kurzen Rock, der ihre langen, schlanken Beine so wunderbar betonte, er konnte die ganze Zeit nur auf diese wahnsinnigen Beine starren, sie konnte sagen was sie wollte, alles hätte er für sie getan. Sie wusste das und sie wusste, wie sie auf Männer wirkte und das nutzte sie eiskalt aus.
Anfänglich lief alles wunderbar, die Geschäfte liefen gut, sie hatte gute Kontakte, die sich wunderbar mit seinen ergänzten, sie machten keine Fehler, verdienten eine Menge Kohle und ab und an versackten sie gemeinsam in irgendeiner dunklen Bar, nach zahlreichen Cocktails erzählten sie sich lachend wilde Stories aus noch wilderen Zeiten, immer versuchte er dabei, in ihr einen guten Freund und Geschäftspartner zu sehen, doch das funktionierte nicht. Immer öfter verlor er sich in Träumen, Phantasien, malte sich aus, wie es wohl wäre, wenn er sie nach einem solchen Abend endlich abschleppen würde, wenn sie sich in seinem Bett räkeln würde und sie endlich sein wäre. Er gab sich seinen Träumen hin und machte unwillkürlich Fehler. Erst kam er hier und da ein wenig zu spät, vergaß schließlich wichtige Termine mit noch wichtigeren Kunden, erst warf sie ihm nur böse Blicke zu, irgendwann, nach einem völlig versauten Meeting, packte sie ihn an der Kehle, schleuderte ihn mit einer Kraft, die er von ihr nicht erwartet hätte, gegen die Wand und stellte ihm ein Ultimatum: Entweder der nächste Auftrag geht sauber über die Bühne oder er ist raus aus dem Geschäft.
Beim Gedanken an diesen Tag musste er über sich selbst lachen. Er hätte sagen sollen, dass er mit ihr nicht mehr zusammenarbeiten konnte, dass er sie nicht mehr ansehen konnte, ohne daran zu denken, sie endlich einmal vögeln zu können. Nein, er lehnte nicht ab, in der Hoffnung, doch noch bei ihr landen zu können, er sagte zu. Natürlich ging alles schief. Wie konnte es ihm nur passieren, ausgerechnet den Wagen eines stadtbekannten Crack-Dealers zu klauen, vollgestopft mit Drogen und einer Pumpgun unter dem Beifahrersitz? Zufall, Schicksal oder doch nur pure Blödheit? Irgendwann hatten die Bullen ihn angehalten und er konnte froh sein, dass er jetzt auf Kaution draußen war. Wer hatte die eigentlich hinterlegt? Sie? Der Boss? Das war jetzt auch egal.
"Mein Gott, was machst du da? Du denkst doch wohl nicht wirklich über dein mickriges, verschissenes Leben nach, oder? Du hast es verbockt, Mann, du kannst einpacken. Kapierst du das? Der Boss meinte, ich sollte mich um dich kümmern, die Sache sauber erledigen und mein Bester, nur weil ich dich mag, sitzt du hier und hängst noch nicht dort oben, am Stahlträger unter der Decke. Du hast nur noch diese eine Chance: Gewinnst du, gebe ich dir drei Tage, um diesen beschissenen Koffer ranzuschaffen, egal wie. Verlierst du, hat es sich für dich erledigt, dann bist du dran. Ich finde das fair, der Boss hätte dich schon längst bei den Eiern gepackt und sie dir bei lebendigem Leibe abgerissen. Also?"
Fair? War das fair? Scheiß Geschäfte, wie oft hatte er schon anderen gedroht, ihnen ein paar mal mit der Knarre vor dem Gesicht herumgefuchtelt, ein paar morsche Finger gebrochen, ein bisschen geprügelt, weiter musste er nie gehen, alle hatten schnell die Hosen gestrichen voll. So wie er jetzt. Sie kannte keine Kompromisse und in der Tat konnte er froh sein, dass er immer noch am Leben war. Was für ein Leben eigentlich? Er war an einen Stuhl gefesselt, ohne wirklichen Ausweg, mit einer zauberhaften, aber eiskalten Lady, die nicht zögern würde, ihn um die Ecke zu bringen, und der fünfzigprozentigen Chance, für die nächsten drei Tage am Leben zu bleiben. Scheiße, dachte er, Scheiße, aber eine wirkliche Wahl hatte er wohl nicht.
"Zahl. Nein, doch lieber Kopf. Ähemm..."
"Hör auf zu stottern, Penner, sonst bist du erledigt."
"Okay, Kopf. Ich nehme Kopf. Ja, mach schon, ich nehme Kopf."
Zuletzt brüllte er fast vor Verzweiflung, doch dann ergab er sich seinem Schicksal, dass in eiskalter Engelsgestalt vor ihm stand und ihn angrinste. Mit ruhiger Hand warf sie die Münze nach oben. Dieser Moment lief für ihn in Zeitlupe ab, scheinbar stundenlang drehte sich die Münze in der Luft, irgendwann hatte sie ihren Höhepunkt erreicht, fiel noch langsamer nach unten, in ihre geöffnete Hand. Sie schloss die Hand, schaute ihn noch einmal lange mit ihrem durchdringenden Blick an, ihre Finger lösten sich von der Handfläche, sie blickte auf die darauf liegende Münze, langsam und vorsichtig, so dass er sie nicht sehen konnte. Mit einem Lächeln schloss sie wieder ihre Finger um die Münze und steckte diese schnell in ihre Jackentasche. Mit angsterfülltem Blick schaute er sie an, er zitterte am ganzen Leib, fast hätte er sich in die Hosen gemacht, und sie sagte mit ihrer süßesten Stimme:
"Glück gehabt, Memme. Wirklich Glück gehabt."
Januar 2007 ... link
"Zum letzten Mal: Kopf oder Zahl?" fragte sie noch einmal, bevor sie die Münze in die Luft warf.
Sie hatte einen Hang zu Depressionen hieß es, das war ihr auch klar. Jahrelang war sie in Behandlung gewesen, die Therapeuten- Sprache war ihr so vertraut wie der Inhalt ihrer Handtasche. Genauso wußte sie, wie sie zu reagieren hatte,um in Ruhe gelassen zu werden.
Und doch zog es ihr immer wieder den Boden unter den Füssen weg, bis nur noch das große schwarze Nichts übrig blieb. Sie wurde zusehenst müder zu kämpfen, immer fröhlich zu spielen, damit sich keiner mehr um sie sorgte. Sie konnte sich anderen gegenüber und oftmals auch sich selbst nicht mehr verständlich machen. Wie sollte man Leere auch erklären.... ?
Aber sie wollte auch nicht mehr denken, reden,fühlen und so beschloß sie, eine Entscheidung vom Schicksal zu fordern. Sie würde sich dieser Entscheidung beugen, alles war vorbereitet.
Kopf bedeutete Tabletten, Zahl war der Sprung nach unten .... zweimal hatte sie schon geworfen und zwar immer mit dem gleichen Ergebnis ... zum letzten Mal fragte sie also noch einmal das Schicksal, bevor sie die Münze in die Luft warf...
"Okay!" sagte sie und sprang mit einem kleinen Lächeln der Erlösung entgegen...
Januar 2007 ... link
"Zum letzten Mal: Kopf oder Zahl?" fragte sie noch einmal, bevor sie die Münze in die Luft warf.
Sie ist Xena. Für ihn war sie eine Art Institution, die Vertreterin eines Lagers unter den ihren. Er kannte sie seit hunderten von Jahren, er wußte nicht einmal zu sagen wie lange denn genau. In seiner Erinnerung kannte er sie schon immer. In gewisser Weise stellte er das andere Lager dar. Er liebte die Diskussionen mit ihr. Nicht das Sie sich jemals wirklich einigen würden, aber die Diskussionen bereicherten beide, so hoffte er. Sie gab sich nach außen cool und schien die Hardlinerin ihrer Fraktion zu sein aber er wußte, dass es unter ihrer kaltschnäuzigen Oberfläche brodelte. Sie reizte ihn, brachte regelmässig sein Blut in Wallung.
Es war nicht so, dass sie das Schlechte und er das Gute verkörperte, mitnichten. Zumindest von außen gesehen, nach Äußerlichkeiten geurteilt, verkörperte er die Leidenschaft und sie die Ruhe, mit immer anderen Schwerpunkten und manchmal schien es auch mit immer weiter sich vermischenden Rollen. Ihre Ansichten waren ineinander verwoben. Fast immer wußte er schon vorher das sie gegenteiliger Meinung sein würde. Nur ein einziger Fall war ihm in Erinnerung, in dem sie nicht diskutieren konnten weil sie einer Meinung waren.
Die Münze flog hoch in die Luft. In seiner impulsiven Art fing er sie blitzschnell in der Luft auf und verbarg sie in seiner geschlossenen Faust.
"STOP", rief er laut.
"Was ist denn jetzt noch, Usu?" entfuhr es ihr und der gereizte Tonfall war nicht zu überhören.
"Du kannst die Entscheidung zu dieser Frage nicht vom Wurf einer Münze abhängig machen. Sie betrifft einen großen Teil der Menschheit." begründete er sein Intervenieren.
Sie wußte vorher das er das nicht akzeptieren würde aber sie war gespannt auf seine Reaktion. Genauso wie sie diese Entscheidung erzwingen wollte, genauso wußte sie, dass er sie verhindern wollte. Für ihn gab es nur eine Antwort, das wußte sie.
Er sprach weiter: "Also noch einmal von vorn." In der folgenden Konzentrationspause blickte er ihr stechend in die Augen, als wollte er sie hypnotisieren. Dieser Blick, dachte sie, wenn er doch nur nicht diesen Blick hätte.
"Du kannst die Liebe nicht leugnen." fuhr er fort.
"Es gibt keine Liebe" antwortete sie trotzig. Das war die Stelle in jeder Diskussion mit ihr die ihn am meisten reizte. Sie verließ ihre coole Art. Innerlich grinste er, "ja, die coole Xena" , fuhr aber, äußerlich ruhig und gefasst, fort: "Nein? Was ist es dann was die Menschen miteinander verbindet - ok, zugegeben, nicht alle Menschen?"
"Ach, das ist doch alles nur Biochemie" entgegnete sie nun ganz bewußt ruhig, weil ihr selbst aufgefallen war, dass ihr vorheriger Satz recht emotional geraten war.
"Quatsch", entfuhr es ihm, "es gibt doch Liebe ohne Körperlichkeit, Liebe über die Entfernung, ohne Berührungen, ohne die Möglichkeit zur Interaktion."
Diesmal reagierte sie wieder lauter: "Dann ist es eben Psychologie, Selbstsuggestion, Projektion der eigenen Wünsche oder Einsamkeitsflucht". Sie machte eine kleine Pause. "Vielleicht rührt es auch aus der Sozialisation".
Für einen Moment schwieg auch er. "Weißt Du das es Hass gibt?" fragte er unvermittelt.
Es folgte ein kurzes und trockenes, beinahe unwilliges "Ja" von ihr.
"Aha, siehst Du, da haben wir es. Wenn es Hass gibt, dann gibt es auch Liebe. Wenn es Licht gibt, so gibt es auch Schatten." Er hielt einen Moment inne und fuhr dann kaum hörbar fort: "Wenn es Xena gibt, so gibt es auch Usu"
Wie erstarrt blicken sie sich an.
Dann polterte sie los: "Dann gibt es eben auch keinen Hass, dann drehe ich Deine Logik um. Wenn es keine Liebe gibt, dann gibt es auch keinen Hass! Dann sind die Menschen die andere umbringen oder die Kriege führen eben einfach nur fehlgeleitet. Sie haben eine Fehlschaltung im Gehirn oder sie haben Überlebensangst und handeln aus ihrem Selbsterhaltungstrieb heraus."
"Hast Du mal in die Gesichter der Steinewerfer gesehen, wenn Sie immer und immer wieder ..." gibt er zu bedenken.
Sie unterbrach ihn: "Das ist Massenhysterie oder Massenhypnose. Eine Steinigung kann auch einfach nur ein Ventil für den eigenen Frust sein, genauso wie die Gewalt der rechtradikalen Schläger zweitausend Jahre später."
"He, Moment mal. Jetzt vermischt Du verschiedene Dinge die so gar nicht vergleichbar sind." Sein Tonfall ist nun wieder deutlich erregt. "Ok, dann nimm die Extremisten, die religiösen oder territorialen Extremisten, damals oder heute. Sie hassen und kämpfen bis zur Selbstaufgabe. Sie stellen ihr eigenes Leben sogar zurück. Das ist Haß!" Nun seiner innerlichen Aufregung wieder etwas mehr Herr, fährt er leiser fort: "Und dem gegenüber betrachte die Liebespaare, betrachte die Menschen die sich für andere aufopfern können und wollen, betrachte die Menschen die allen Widrigkeien trotzen, nur der Liebe wegen...." Seine Rede ist immer leiser und langsamer geworden. Sein Blick ruhte fest in ihren Augen.
Er wußte was er wußte, schon sehr lange wußte, vielleicht ja schon immer wußte.
Sein Blick. Wenn doch nur sein Blick nicht wäre, dachte sie erneut. Plötzlich spürte sie etwas. Sein Blick drang in sie. Es war ein Gefühl das sich in ihr ausbreitete, vergleichbar einer warmen, wärmenden Flüssigkeit. Es machte sie unsicher.
Zum ersten Mal hatte sie eine Ahnung davon, wovon er sprach.
Andeutungsweise begann er zu lächeln. Das erste Mal seit Beginn des Gespräches. "und außerdem..", sein Lächeln verstärkte sich, "und außerdem muss ich mir Deine Münze erst einmal genau anschauen, ich habe mir sagen lassen es soll Exemplare geben, bringt man sie zu Allia..". Während er das sagte, vertiefte sich auch ihr Lächeln. Ihr beider Lächeln wurde zu einem Grinsen.
Und wieder spürte sie diese Art von Wärme. Sie hing an seinen Lippen, so wie sein Blick in dem Ihren lag. Sie hörte nicht was er sprach.
Januar 2007 ... link
"Zum letzten Mal: Kopf oder Zahl?" fragte sie noch einmal, bevor sie die Münze in die Luft warf. "Kopf, verdammt noch mal!". Was für eine dämliche Frage. Natürlich Kopf.
Mit einem leisen "Pling" wirbelte Claudias Daumen das Geldstück in die Luft. Wie in Zeitlupe folgten unsere Blicke der sich drehenden Münze, die Zeit schien still zu stehen.
Ich konnte es noch immer nicht fassen, dass sie eine Entscheidung dieser Tragweite auf so eine billige Art und Weise treffen wollte. Aber vielleicht war das tatsächlich der einzig mögliche Weg. Alle Gespräche im Vorfeld hatten nichts gebracht, die Stimmung wurde zusehends schlechter, also schlug sie die Münzennummer vor und ich willigte ein. Nun war ich mir nicht mehr sicher, ob die Idee so gut war, aber es war zu spät. Die untergehende Sonne spiegelte sich im Gold und Silber der Münze, ließ sie bei jeder Drehung glitzern und schimmern, fast wie die Wellen an der Adria vor vielen Jahren, als wir unseren ersten gemeinsamen Urlaub verbrachten. Wir studierten beide und hatten entsprechend wenig Geld. Aber Sprit war noch bezahlbar und die lange Fahrerei machte uns nichts aus. Wieso auch, wir hatten ja uns, wenig Gepäck und freuten uns auf Sonne, Meer und leckere Kost. Die kleine Pension, in der wir die zwei Wochen verbrachten war zwar etwas heruntergekommen, aber das machte nichts. Nach der ersten Nacht hatten wir uns an die quietschenden Bettfedern gewöhnt; die Zimmernachbarn anscheinend auch. Es gab keine Beschwerden.
Die Tage standen den Nächten in nichts nach. Wir lagen am Strand, aßen kühle Wassermelone oder Eis und genossen Sonne und Meeresrauschen. Am Mittag suchten wir uns in den verwinkelten Gassen der Stadt kleine Restaurants und ließen uns verwöhnen. Antipasti, Pasta in allen Variationen, frischen Fisch, Pizza, Risotto und Lambrusco. Wir lebten wie Gott in Frankreich, nur eben in Italien.
Die Münze hatte den höchsten Punkt erreicht. Einen Sekundenbruchteil war das Drehen ihre einzige Bewegung, dann begann sie langsam zu Boden zu fallen.
Ich erinnerte mich an die Geschäftsreise nach Mailand, zu der Claudia mich begleitete. Ich legte den Termin auf einen Donnerstag und wir genossen ein verlängertes Wochenende in der Stadt. Es war mitten im Winter, dicke Schneeflocken wälzten sich wie ein weiser Teppich vom Himmel und es war sehr kalt. Nicht weit entfernt von der Scala entdeckten wir ein kleines Restaurant, wo wir uns bei einem Cappuccino aufwärmen wollten. Durch die Scheibe beobachteten wir das Schneetreiben, das immer stärker wurde, was unsere Lust nach draußen zu gehen deutlich milderte. Wir beschlossen uns auf den im Restaurant angepriesenen Brunch einzulassen. Eine gute Idee, wie sich herausstellen sollte. Schwarze und grüne Oliven, eingelegtes Gemüse und verschiedene Pastavariationen füllten das Buffet. Dazu hausgemachtes Michetta und andere Backwaren. Es wurde ein langer Nachmittag und ein toller Abend.
Die Münze fiel immer schneller, näherte sich dem alles entscheidenden Aufprall auf dem Küchenboden. Ich sah in Claudias Augen, sie schaute mich an. "Willst du so eine Entscheidung wirklich einem bescheuerten Geldstück überlassen? Das ist doch Wahnsinn!", rief ich, aber es war zu spät. In meinen Ohren klang es wie eine Explosion, als die Münze auf den Boden traf und Richtung Tisch kullerte. Ich konnte noch immer nicht fassen, was wir da taten, aber es war zu spät. Die Münze rollte über die Fliesen, holperte über die Fugen und prallte schließlich gegen ein Tischbein. Zuerst sah es so aus, als wolle sie stehen bleiben und dort verharren. Dann fiel sie. Ein letztes Rotieren und sie blieb liegen. Die eingeprägte Zahl, das Sinnbild meiner Niederlage funkelte im Sonnenlicht. Ich hatte verloren. Claudia sah mich an, ein Siegerlächeln auf den Lippen.
"Ach komm schon. Das ist doch nur eine blöde Münze. Überlegs Dir noch mal", sagte ich.
"Nichts da, wir haben ausgemacht, dass die Münze entscheiden wird und das hat sie nun. Ich habe gewonnen." Sie war unerbittlich.
"Weißt Du noch, damals an der Adria?", flehte ich. "Oder das Wochenende in Mailand? Das kannst Du doch nicht einfach so ignorieren."
Aber ich hatte keine Chance. Claudia blieb hart und weidete sich an meiner Niederlage.
"Jetzt mach nicht so ein Gezeter. Was hat den die Adria oder Mailand mit unserem Abendessen zu tun", sagte sie. "Mir hängt das Essen vom Pizza-Service eben so langsam zum Hals heraus" und als wolle sie mich demütigen sagte sie den Satz, der mich um die kulinarischen Freuden Iatliens bringen sollte: "DIe Münze hat entschieden. Heute bestellen wir was beim Chinesen und damit basta!"
Ich startete einen letzten Versuch. "Aber Schatz, beim Italiener gibt’s doch Risotto. Das ist auch Reis. Das wäre doch eine gute Alternative."
Sie nahm mein Flehen und Betteln gar nicht zur Kentniss. In der einen Hand hielt sie den Flyer von "Mr. Wongs Chinese Dinner", mit der anderen führte sie das Telefon zum Ohr. Ich resignierte.
Auf dem Boden lag noch die Münze. Ich hob sie auf und drehte sie zwischen den Fingen. Dann legte ich sie auf den Tisch. Keine Pasta, keine Pizza, stattdessen irgendwelchen chinesischen Kram. Und das alles nur wegen einer blöden Münze. Warum hatte ich mich nur darauf eingelassen.
Januar 2007 ... link
"Zum letzten Mal: Kopf oder Zahl?" fragte sie noch einmal, bevor sie die Münze in die Luft warf. Mit einer raschen Handbewegung fischte er das Geldstück aus seiner Flugbahn. "Hör auf. Ich mache es.", sagte er und ohne sie anzusehen wandte er sich ab und ging mit langen Schritten an der dampfschwadengefüllten Hütte des Schnellimbisses und der stählernen Schlange dienstbereiter Einkaufswagen vorbei. Er spürte ihren verfolgenden Blick im Rücken, wusste, dass sie abwechselnd an der Unterlippe und dem linken Daumennagel kaut, wie sie es immer tut, wenn sie nervös ist. Er selbst war nicht nervös, sondern genervt. Er hasste diese Art Spiele und er hasste es, dass er nicht mutig genug war, sich ihr entgegenzustellen und "Nein" zu sagen.
Die Tafel Schokolade stopfte er sich im Vorbeigehen in die rechte Jackentasche. Aussuchen, zugreifen, weitergehen, einstecken. Ein Kinderspiel, so einfach, dass sich nicht einmal sein Puls beeindruckt zeigte.
Die nächste Aufgabe war schwieriger. Er machte einen großen Schlenker zwischen Tee und Kaffee hindurch und näherte sich dem Spirituosenregal im rechten Winkel. Der größte Fehler ist, dachte er, sich halbe Ewigkeiten herumzudrücken. Das zieht Aufmerksamkeit auf sich und macht misstrauisch. Schnell muss es gehen, wie bei der Schokolade, auch wenn eine Flasche viel schwerer und sperriger ist als das leichte, flache Rechteck der Süßigkeit. Vor dem Sortiment an Hochprozentigem angekommen, ging er sofort in die Hocke. Seine Jacke fiel offen und weit links und rechts seiner Knie auseinander, der Saum berührte die stumpfen Kacheln des Bodens. Seine rechte Hand griff nach einer Flasche und hob sie zur Begutachtung in Augenhöhe, während seine Linke eine weitere Flasche vom untersten Regalboden nahm und sie in der geräumigen Innentasche verschwinden ließ. Rasch richtete er sich auf und schob sich durch den Pulk abgestellter Einkaufswagen bei den Zeitschriften in Richtung Kasse.
Sein Herz begann zu pochen, während er darauf wartete, zwei Schachteln Zigaretten aus dem Drahtkäfig zu nehmen und nur eine einzige auf das gummierte Förderband zu legen. Die Kassenzone ist extrem schwierig. So viele wartend herumschweifende Augen, so viele gelangweilte, und schlimmer noch, genervte Kundschaft. Genervte Kunden schauen hin und nicht weg und sie geben ihrem Unmut über die Wartezeit an der Kasse freudig und mit Lust und Absicht eine weithin hörbare Stimme. "Das ist Diebstahl, was sie da machen, junger Mann." Über vier Köpfe hinweg gebrüllt, bringt einen das in eine äußerst prekäre Lage.
Mit der nächsten Bewegung der Wartenden erreichte er das Ende des Förderbandes. Im Neonlicht glänzend erhob sich darüber das Drahtgitter, in dem fein säuberlich Schachtel an Schachtel aufgereiht war. Nun schlug sein Herz bis in den Hals. Vor ihm war eine junge Frau damit beschäftigt, ein Kleinkind vom Weinen abzuhalten und gleichzeitig ihre Einkäufe auf das Kassenband zu legen. Ihre Aufmerksamkeit war nach vorne gerichtet und reichte für hinten nicht mehr. Hinter ihm jedoch wartete ein Rentnerpaar mit einem fast leeren Einkaufswagen darauf, endlich an die Reihe zu kommen. Rentner sind die Sheriffs jeden Supermarktes. Ausgestattet mit unerbittlichem Gerechtigkeitssinn, welchen die eigene angebliche bittere Benachteilung formte und der zunehmende Verfall des alternden Körper schärfte, darüber hinaus beladen mit der Last eines unausgefüllten, sich immer wieder in seiner Monotonie wiederholenden 24-Stunden-Tages, richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf alles, was sich innerhalb ihres Radius befindet und selten ist darunter etwas, dass ihre Zustimmung oder gar Sympathie verdient.
Die junge Mutter stopfte dem nun doch brüllenden Kind einen Schnuller in den Mund, der Renter bekundete lauthals, dass seine Kinder besser erzogen waren und die Kassiererin verdrehte die Augen, ohne erkennen zu lassen, ob sie das plärrende Kind oder den alten Mann meinte. Mit einem Lächeln nickte er der molligen Frau in dem weißen Kittel zu, dann ging er ohne Eile auf den verglasten Ausgangsbereich zu.
"Hier.", sagte er barsch und leerte den Inhalt seiner Taschen in ihre Hände. Bevor sie etwas sagen konnte, stach er ihr grob den ausgestreckten Zeigefinger gegen die Schulter. "Neunundsechzig Cent für die Schokolade, fünf Euro zwanzig für die Pulle Schluck und 4 Euro für die Kippen. Macht zusammen neun Euro neunundachtzig, du schuldest mir also Vierfünfundneunzig." Er griff ein weiteres in seine Jacke. "Da, der Kassenbon, damit alles seine Richtigkeit hat."
"Du hast.... bezahlt?", fragte sie und ein kleines Grinsen huschte über ihr Gesicht. "Ja, ich habe bezahlt. Ich habe genug von diesen dummen Spielchen. Ich habe genug davon. Endgültig. Mach was du willst, aber in Zukunft ohne mich. Aus. Ende." Ihr Blick fixierte sein Gesicht. "Du kannst mich nicht umstimmen, ich meine das ernst.", sagte er mit einem grimmigen Zug um die Mundwinkel. "Keine Mutproben mehr? Nie wieder?", fragte sie und ihre Stimme gluckste verräterisch. "Nein. Nie wieder!" gab er zurück. "Gottseidank.", lachte sie. Verwundert schaute er sie an. "Gottseidank?", fragte er. "Ja, gottseidank. Ich habe diese Mutproben im Supermarkt von Anfang an gehasst, aber habe mich nie getraut, dir das zu sagen."
"Sag Arschloch zu mir.", sagte er und fiel in ihr Lachen ein.
Januar 2007 ... link
„Zum letzten Mal: Kopf oder Zahl?" fragte sie noch einmal, bevor sie die Münze in die Luft warf. Die Münze flog keineswegs hoch, noch drehte sie sich filmreif, vielmehr schien sie sich ihrer Umgebung anzupassen, indem sie gemächlich wurde, ja beinahe in der Luft stehen bleiben zu drohte. Beäugt von zwei Augenpaaren erreichte sie ihren dürftigen Höhepunkt im Flug und segelte dann wieder herab. Vorbei an der zittrigen Hand, die sie geworfen hatte. Vorbei an der Tischkante mit dem Spitzendeckchen darauf und vorbei an der Vase mit den frischen Schnittblumen. Mit einem Klirren schlug sie auf das Laminat und rollte unter den antiken Eichenschrank.
„Das hast du jetzt von deiner Spielsucht“, keifte Elisabeth und schaute ihr Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen an.
Die winkte ab und setzte sich auf den zweiten Stuhl, an den Tisch mit dem Spitzendeckchen und der Vase mit den frischen Schnittblumen. „Ach, Spielsucht! Du musst immer übertreiben. Spielsucht ist, wenn ich meine Rente in einem Casino auf Rot setzen und Schwarz kommen würde. Das hier ist kontrolliertes Risiko.“
„Du hattest noch nie Glück im Spiel.“
„Du, meine liebe Elisabeth, hattest noch nie Glück im Spiel! Ich hatte schon einmal vier Richtige im Samstagslotto!“
„Und nichts davon ist geblieben, Trudi. Hast alles verplämpert!“ Elisabeth verschränkte die Arme und blitzte Trudi ein weiteres Mal an. Diese winkte abermals ab und holte tief Luft. Ein Röcheln ging durch ihre Bronchien.
„Wieder diese Übertreibung! Verplämpert, pah! Gelebt, habe ich, mehr nicht und auch nicht weniger. Hätte dir auch einmal gut getan, Lissi.“
„Willst du die Münze nicht aufheben und noch mal werfen? Vorher bekommst du doch gar keine Ruhe.“
„Lass den Zivi mal kommen, dann werd ich schon ruhig“, erwiderte Trudi und begann an ihrer Strickjacke zu nesteln. „Außerdem, wie soll ich denn jetzt bitte mit meiner Hüfte auf dem Boden herumwuseln und halb unter den Schrank kriechen?“
„Tu nicht so wehleidig, du bist diejenige, die noch laufen kann. Ich kann dir natürlich auch gerne den Rollstuhl anbieten! Und wenn wir schon dabei sind, kannst du direkt die Inkontinenz dazu bekommen.“
„Hab ich selber, danke.“
Elisabeth lehnte sich vor und schaute auf die große Uhr mit den silbernen Ziffernblättern und dem goldenen Rand. „Die geht falsch“, stellte sie fest.
„Die steht“, ergänzte Trudi trotzig und hob sich aus dem Stuhl. „Unter den Schrank kann ich vielleicht nicht greifen, aber vielleicht hinein. Likörchen?“
Elisabeths Augen leuchteten aufgrund der neuen Situation. „Pflaume?“, fragte sie vorsichtig.
„Zwetschge!“
„Das ist doch Pflaume!“
„Ich werde dir den Unterschied wohl nie beibringen können“, schüttelte Trudi den Kopf und öffnete eine Schranktür, um aus einem Stoß Wäsche eine Flasche Likör herauszukramen. Ein gutes Versteck für die kleinen Geschenke, die man sich beizeiten selber macht, war das A und O, hatte Trudi sehr schnell festgestellt. Sie hielt nichts davon, auf all ihre Sachen kleine Namensaufkleber anzubringen, nur damit die irgendwann doch jemand abzog und ihre Sachen annektierte. Außerdem war so was Paranoia und die befiel nur Hausfrauen und alte Menschen – Hausfrau war sie nicht mehr, alt noch nicht, wenn es nach ihrer Zeitrechnung ging.
„Genauso wenig wie den Unterschied zwischen Spielsucht und kontrolliertem Risiko“, setzte sie hinzu.
„Ich höre dir genau zu, meine Liebe, sprich dich nur aus. Aber lass mich vorher die Pillen nehmen, damit mein Leiden nicht so groß wird.“
Trudi schnalzte mit der Zunge, als sie mehrmals versuchte, die Flasche zu öffnen, aber jedes Mal an dem Schraubverschluss scheiterte. „Mistding! Am Ende muss ich sie wieder den Zivi öffnen lassen und dann hab ich den Ärger.“
„Sagt er was?“, wollte Elisabeth ernstlich besorgt wissen.
Trudi tat eine letzte Kraftanstrengung und hielt eine Sekunde später triumphierend den Verschluss in den faltigen Händen. „Iwo, der trinkt mir alles weg! Das ist viel schlimmer. Letztens saß er mit mir eine halbe Stunde zusammen und hat mir die halbe Flasche leer gemacht, der Bengel. Ich sollte ihm das nächste Mal den Selbstgebrannten hinstellen, dann erfährt der Jungspund mal, was Rachenbrand ist.“
„Du bist fies, Trudi! Der Zivi ist äußerst nett, so einen netten hatten wir seit Jahren nicht.“
„Der schummelt beim Skat!“
„Tust du doch auch!“
„Das hab ich gar nicht nötig, meine Liebe“, wiegelte Elisabeth sichtlich entrüstet ab. Es war eine Sache sie im Bezug auf den Charakter des Zivis zurechtzuweisen, aber eine ganz andere, ihre Ehre im Skatspiel infrage zu stellen.
Sie schenkte Elisabeth und sich in zwei Wassergläser großzügig ein und verstaute dann die Flasche wieder im Schrank.
„Wohlsein!“
„Wohlsein!“
Beide nippten genüsslich an ihren Gläsern und rollten sie zwischen den knöchrig gewordenen Händen. Diese kleinen Laster waren das Einzige, was den beiden geblieben war. In einem Altenheim gab es nicht sehr viel Freude, kaum Abwechslung und noch weniger Grund zum Leben.
„Hast du den neuen Pfleger schon gesehen?“, fragte Trudi kichernd. Der Likör stieg ihr bereits ein wenig zu Kopf, sie war Alkohol seit der Hüftoperation nicht mehr gewohnt. „Ein lecker Mann, ist das! Jung, drahtig, humorvoll. Der weiß eine Dame noch mit Respekt zu behandeln. Und er hat mir gestern zugezwinkert.“
„Ihm ist etwas ins Auge geflogen“, spottete Elisabeth und nahm noch einen großen Schluck.
„Tze, so wie Erwin `79 nur etwas ins Age geflogen war?“
„Ach, Erwin! Der alte Bock hatte seine Hände doch unter jedem Mieder. Hatte der sein Kölsch und seine Salami war der doch schon im Hafen. Keine Ahnung von Frauen, der Mann. Immer nur am Herumhalodern, kein Wunder, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist.“
„Unter deinem Mieder war er nicht“, stellte Trudi fest, ohne mit Elisabeth Blickkontakt aufzunehmen. Sie wusste um das Risiko, das dieses Thema darbot.
Elisabeth schien eine Sekunde in Erinnerungen versunken, dann schmunzelte sie leicht. „Ja, weil ich damals Kopf gesagt habe und du Zahl“, meinte sie dann und kippte den restlichen Likör hinunter.
Januar 2007 ... link
"Zum letzten Mal: Kopf oder Zahl?" fragte sie noch einmal, bevor sie die Münze in die Luft warf. Sein Blick, der eben noch durch das gedämpft beleuchtete Cafe auf die Bar gerichtet war, wo er sich im nichts verirrt hatte, kehrte zu ihr zurück. Tausend mal hatte er sie bereits lächelnd angesehen, sich über ihre Haarsträhne amüsiert, die immer dann in ihr Gesicht fiel, wenn sie sich aufregte und ihm von einem Erlebnis erzählte, das sie bewegte. Er mußte dann immer grinsen, was sie meistens mit dem Vorwurf quittierte, dass er sich nicht lustig über sie machen sollte, wenn sie wütend war. Die Strähne fiel ihr auch jetzt wieder ins Gesicht, doch diesmal blieb sein Gesicht starr.
Kopf oder Zahl - alles oder nichts - schwarz oder weiß. Ihre linke Hand ballte sich zur Faust während sie die Münze fing und knallte sie auf den Tisch. Ein kleines Stück Metall, nur eine 50 Cent Münze - sie hatte keinen Euro und er wollte keine Münze geben. Sie schien es ernst zu meinen: eine Gabelung auf dem Lebensweg und die Münze entschied ob links oder rechts - ob mir ihr oder ohne sie. Eine 50 Cent Frage. Er blickte sie immer noch an, doch sein Blick ging durch sie hindurch, verfing sich in den Gedanken an die letzten Monate. Monate voller Liebe, voller Lust, voller Freiheit.
Ihre Augen trafen sich wieder, er schüttelte ungläubig den Kopf. "Du willst diese Frage wirklich von einer Münze abhängig machen?", fragte er sie. Sie nickte. "Wir kommen nicht weiter, wir haben das endlose Male diskutiert", erwiderte sie. "Sag mir jetzt, wer Kopf ist und wer Zahl. Bin ich Kopf oder sie? Du wirst eine von uns aufgeben müssen. Ich will nicht mehr so weiter leben, ich kann das nicht. Du sagst, du kannst dich nicht entscheiden, also muss es wohl die Münze tun". Sie blickte ihm voller Entschlossenheit in die Augen. Er liebte ihre Selbstsicherheit, er mochte es, wenn eine Frau wußte und sagte, was sie wollte - doch diesmal verunsicherte ihn ihr fester Blick. Sie meinte es ernst, tatsächlich ernst. Er sah auf ihre Hand, die auf dem Tisch lag und die Münze verdeckte. Es verging fast eine Minute, bis er sie wieder ansah. Ihr Blick traf ihn noch immer. "Ok", sagte er schließlich, "du bist Kopf".
Sie rührte sich nicht, blickte ihn noch ein Weile starr an, bevor sie mit ihrer Hand die Münze vom Tisch schob und sie ohne sie anzusehen in ihre Tasche steckte. Anschließend stand sie auf und zog ihren Mantel an. Sie schob den Stuhl an den Tisch, stellte sich kurz dahinter und sah ihn ein letztes Mal an. Ihr "Lebewohl" war mehr geflüstert als gesprochen, dann verliess sie das Cafe. Er wollte etwas sagen, doch die Resignation, die er in ihrem feuchten Blick gesehen hatte, liessen seine Worte sterben. Eine unheimliche Stille legte sich über ihn. Es war, als ob ihn plötzlich eine Leere überkam, die in dieser Form neu für ihn war.
Die Geräuschkulisse aus Hintergrundmusik und anderen Gesprächen war wie ein leichter Nebel, der durch seine flüchtigen Gedanken strich. Er sah zur Kerze, die auf dem kleinen Tisch brannte, er sah ihr kleines Schattenspiel im Dämmerlicht. Die Frau, die vom Nebentisch aufstand und zu ihm rüberkam, nahm er erst wahr, als sie in ansprach. Ihr Frage "Entschuldigung, darf ich mich kurz setzen" beantwortete er mit einem kurzen Nicken, noch bevor er sich fragte, was sie eigentlich von ihm wollte. Sie war deutlich älter als er, er tippte auf weit über 50 aber er sah, dass sie einmal sehr schön gewesen sein muß und für ihr Alter auch heute noch gut aussah.
Sie lächelte ihn verlegen an. "Wissen Sie", fing sie an, "vielleicht lachen sie gleich laut über das, was ich ihnen erzähle. Vielleicht liege ich vollkommen daneben und mache mich lächerlich. Doch irgendetwas treibt mich, es zu erzählen". Sie sah, wie sie langsam sein Interesse weckte. Wahrscheinlich hätte er ihre Unsicherheit gesehen, wenn er auf ihre Hand geachtet hätte, die zu dem verloren auf dem Tisch liegenden Bierdeckel griff. Er sagte immer noch nichts, erwiderte einfach ihren Blick, der inzwischen von dem Bierdeckel wieder auf ihn gerichtet war. "Ich habe den Blick der Frau gesehen, die die Münze geworfen hatte und es hat mich an etwas erinnert".
Sie spürte jetzt, dass sie inzwischen seine ganze Aufmerksamkeit hatte. "Vor vielen Jahren sass ich auch hier und ein Mann hat mir zwei Streichhölzer hingehalten und mich gebeten eines zu ziehen. Das lange stand für ihn, dass kurze für einen anderen". Sie sah an seinem Blick, dass sie sich nicht geirrte hatte. Er mußte ganz kurz lachen, es war mehr ein gestossenes Ausatmen als ein Lachen. "Lassen sie mich raten. Sie haben das kurze gezogen und es bereut". Sie schüttelte den Kopf. "Dann sind sie mit ihm unglücklich geworden und hätten lieber das kurze gezogen?", frage er weiter. Sie schüttelte wieder den Kopf und sah zu dem Bierdeckel, der immer noch ihre Hände beschäftigte. "Nein. Er stand auf und ging, wenige Sekunden nachdem ich das lange Streichholz gezogen hatte". Sie sah ihn an und spürte, dass er nicht verstand, was sie ihm eigentlich sagen wollte.
Ihre Augen wurde nun etwas feucht. "Der Fehler war nicht, dass ich das falsche Streichholz gezogen hatte". Er wollte etwas sagen, ahnte aber, dass sie von alleine weitererzählen würde. "Es ging ihm nicht darum, welches Streichholz ich zog sondern ob ich überhaupt ziehen würde. Ich zog, das war mein erster Fehler". Sie macht eine kleine Pause. "Der zweite Fehler war, dass ich ihm nicht hinterher gelaufen bin und ihm gesagt habe, er soll das beschissene Streichholz vergessen und meine Hand nehmen". Sie legte den Bierdeckel wieder auf den Tisch, sah ihm dann direkt in die Augen.
Er wußte nicht, wie lange sie sich schweigend ansahen. Nach einer Weile nickte er, zunächst langsam und bedächtig, dann kniff er seine Lippen aufeinander, nickte kräftiger. Er holte einen 20 Euro Schein aus seiner Hosentasche und legte ihn auf den Tisch. "Könnten Sie bitte für mich zahlen, das hier sollte reichen. Ich möchte am Bahnhof sein, bevor ein bestimmter Zug eintrifft". Er stand auf, zog schnell seine Jacke an und war bereits zwei Schritte gegangen, als er sich umdrehte und ihr noch Danke sagen wollte. "Viel Glück" sagte sie. Er dankte nur noch mit einem Nicken, bevor er das Cafe verliess und zum Bahnhof lief.
Januar 2007 ... link