Dienstag, 23. Januar 2007
Diebisch

"Zum letzten Mal: Kopf oder Zahl?" fragte sie noch einmal, bevor sie die Münze in die Luft warf. Mit einer raschen Handbewegung fischte er das Geldstück aus seiner Flugbahn. "Hör auf. Ich mache es.", sagte er und ohne sie anzusehen wandte er sich ab und ging mit langen Schritten an der dampfschwadengefüllten Hütte des Schnellimbisses und der stählernen Schlange dienstbereiter Einkaufswagen vorbei. Er spürte ihren verfolgenden Blick im Rücken, wusste, dass sie abwechselnd an der Unterlippe und dem linken Daumennagel kaut, wie sie es immer tut, wenn sie nervös ist. Er selbst war nicht nervös, sondern genervt. Er hasste diese Art Spiele und er hasste es, dass er nicht mutig genug war, sich ihr entgegenzustellen und "Nein" zu sagen.

Die Tafel Schokolade stopfte er sich im Vorbeigehen in die rechte Jackentasche. Aussuchen, zugreifen, weitergehen, einstecken. Ein Kinderspiel, so einfach, dass sich nicht einmal sein Puls beeindruckt zeigte.

Die nächste Aufgabe war schwieriger. Er machte einen großen Schlenker zwischen Tee und Kaffee hindurch und näherte sich dem Spirituosenregal im rechten Winkel. Der größte Fehler ist, dachte er, sich halbe Ewigkeiten herumzudrücken. Das zieht Aufmerksamkeit auf sich und macht misstrauisch. Schnell muss es gehen, wie bei der Schokolade, auch wenn eine Flasche viel schwerer und sperriger ist als das leichte, flache Rechteck der Süßigkeit. Vor dem Sortiment an Hochprozentigem angekommen, ging er sofort in die Hocke. Seine Jacke fiel offen und weit links und rechts seiner Knie auseinander, der Saum berührte die stumpfen Kacheln des Bodens. Seine rechte Hand griff nach einer Flasche und hob sie zur Begutachtung in Augenhöhe, während seine Linke eine weitere Flasche vom untersten Regalboden nahm und sie in der geräumigen Innentasche verschwinden ließ. Rasch richtete er sich auf und schob sich durch den Pulk abgestellter Einkaufswagen bei den Zeitschriften in Richtung Kasse.

Sein Herz begann zu pochen, während er darauf wartete, zwei Schachteln Zigaretten aus dem Drahtkäfig zu nehmen und nur eine einzige auf das gummierte Förderband zu legen. Die Kassenzone ist extrem schwierig. So viele wartend herumschweifende Augen, so viele gelangweilte, und schlimmer noch, genervte Kundschaft. Genervte Kunden schauen hin und nicht weg und sie geben ihrem Unmut über die Wartezeit an der Kasse freudig und mit Lust und Absicht eine weithin hörbare Stimme. "Das ist Diebstahl, was sie da machen, junger Mann." Über vier Köpfe hinweg gebrüllt, bringt einen das in eine äußerst prekäre Lage.

Mit der nächsten Bewegung der Wartenden erreichte er das Ende des Förderbandes. Im Neonlicht glänzend erhob sich darüber das Drahtgitter, in dem fein säuberlich Schachtel an Schachtel aufgereiht war. Nun schlug sein Herz bis in den Hals. Vor ihm war eine junge Frau damit beschäftigt, ein Kleinkind vom Weinen abzuhalten und gleichzeitig ihre Einkäufe auf das Kassenband zu legen. Ihre Aufmerksamkeit war nach vorne gerichtet und reichte für hinten nicht mehr. Hinter ihm jedoch wartete ein Rentnerpaar mit einem fast leeren Einkaufswagen darauf, endlich an die Reihe zu kommen. Rentner sind die Sheriffs jeden Supermarktes. Ausgestattet mit unerbittlichem Gerechtigkeitssinn, welchen die eigene angebliche bittere Benachteilung formte und der zunehmende Verfall des alternden Körper schärfte, darüber hinaus beladen mit der Last eines unausgefüllten, sich immer wieder in seiner Monotonie wiederholenden 24-Stunden-Tages, richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf alles, was sich innerhalb ihres Radius befindet und selten ist darunter etwas, dass ihre Zustimmung oder gar Sympathie verdient.

Die junge Mutter stopfte dem nun doch brüllenden Kind einen Schnuller in den Mund, der Renter bekundete lauthals, dass seine Kinder besser erzogen waren und die Kassiererin verdrehte die Augen, ohne erkennen zu lassen, ob sie das plärrende Kind oder den alten Mann meinte. Mit einem Lächeln nickte er der molligen Frau in dem weißen Kittel zu, dann ging er ohne Eile auf den verglasten Ausgangsbereich zu.

"Hier.", sagte er barsch und leerte den Inhalt seiner Taschen in ihre Hände. Bevor sie etwas sagen konnte, stach er ihr grob den ausgestreckten Zeigefinger gegen die Schulter. "Neunundsechzig Cent für die Schokolade, fünf Euro zwanzig für die Pulle Schluck und 4 Euro für die Kippen. Macht zusammen neun Euro neunundachtzig, du schuldest mir also Vierfünfundneunzig." Er griff ein weiteres in seine Jacke. "Da, der Kassenbon, damit alles seine Richtigkeit hat."

"Du hast.... bezahlt?", fragte sie und ein kleines Grinsen huschte über ihr Gesicht. "Ja, ich habe bezahlt. Ich habe genug von diesen dummen Spielchen. Ich habe genug davon. Endgültig. Mach was du willst, aber in Zukunft ohne mich. Aus. Ende." Ihr Blick fixierte sein Gesicht. "Du kannst mich nicht umstimmen, ich meine das ernst.", sagte er mit einem grimmigen Zug um die Mundwinkel. "Keine Mutproben mehr? Nie wieder?", fragte sie und ihre Stimme gluckste verräterisch. "Nein. Nie wieder!" gab er zurück. "Gottseidank.", lachte sie. Verwundert schaute er sie an. "Gottseidank?", fragte er. "Ja, gottseidank. Ich habe diese Mutproben im Supermarkt von Anfang an gehasst, aber habe mich nie getraut, dir das zu sagen."

"Sag Arschloch zu mir.", sagte er und fiel in ihr Lachen ein.