Dienstag, 23. Januar 2007
Die Entscheidung

"Zum letzten Mal: Kopf oder Zahl?" fragte sie noch einmal, bevor sie die Münze in die Luft warf. "Kopf, verdammt noch mal!". Was für eine dämliche Frage. Natürlich Kopf.
Mit einem leisen "Pling" wirbelte Claudias Daumen das Geldstück in die Luft. Wie in Zeitlupe folgten unsere Blicke der sich drehenden Münze, die Zeit schien still zu stehen.

Ich konnte es noch immer nicht fassen, dass sie eine Entscheidung dieser Tragweite auf so eine billige Art und Weise treffen wollte. Aber vielleicht war das tatsächlich der einzig mögliche Weg. Alle Gespräche im Vorfeld hatten nichts gebracht, die Stimmung wurde zusehends schlechter, also schlug sie die Münzennummer vor und ich willigte ein. Nun war ich mir nicht mehr sicher, ob die Idee so gut war, aber es war zu spät. Die untergehende Sonne spiegelte sich im Gold und Silber der Münze, ließ sie bei jeder Drehung glitzern und schimmern, fast wie die Wellen an der Adria vor vielen Jahren, als wir unseren ersten gemeinsamen Urlaub verbrachten. Wir studierten beide und hatten entsprechend wenig Geld. Aber Sprit war noch bezahlbar und die lange Fahrerei machte uns nichts aus. Wieso auch, wir hatten ja uns, wenig Gepäck und freuten uns auf Sonne, Meer und leckere Kost. Die kleine Pension, in der wir die zwei Wochen verbrachten war zwar etwas heruntergekommen, aber das machte nichts. Nach der ersten Nacht hatten wir uns an die quietschenden Bettfedern gewöhnt; die Zimmernachbarn anscheinend auch. Es gab keine Beschwerden.
Die Tage standen den Nächten in nichts nach. Wir lagen am Strand, aßen kühle Wassermelone oder Eis und genossen Sonne und Meeresrauschen. Am Mittag suchten wir uns in den verwinkelten Gassen der Stadt kleine Restaurants und ließen uns verwöhnen. Antipasti, Pasta in allen Variationen, frischen Fisch, Pizza, Risotto und Lambrusco. Wir lebten wie Gott in Frankreich, nur eben in Italien.

Die Münze hatte den höchsten Punkt erreicht. Einen Sekundenbruchteil war das Drehen ihre einzige Bewegung, dann begann sie langsam zu Boden zu fallen.

Ich erinnerte mich an die Geschäftsreise nach Mailand, zu der Claudia mich begleitete. Ich legte den Termin auf einen Donnerstag und wir genossen ein verlängertes Wochenende in der Stadt. Es war mitten im Winter, dicke Schneeflocken wälzten sich wie ein weiser Teppich vom Himmel und es war sehr kalt. Nicht weit entfernt von der Scala entdeckten wir ein kleines Restaurant, wo wir uns bei einem Cappuccino aufwärmen wollten. Durch die Scheibe beobachteten wir das Schneetreiben, das immer stärker wurde, was unsere Lust nach draußen zu gehen deutlich milderte. Wir beschlossen uns auf den im Restaurant angepriesenen Brunch einzulassen. Eine gute Idee, wie sich herausstellen sollte. Schwarze und grüne Oliven, eingelegtes Gemüse und verschiedene Pastavariationen füllten das Buffet. Dazu hausgemachtes Michetta und andere Backwaren. Es wurde ein langer Nachmittag und ein toller Abend.

Die Münze fiel immer schneller, näherte sich dem alles entscheidenden Aufprall auf dem Küchenboden. Ich sah in Claudias Augen, sie schaute mich an. "Willst du so eine Entscheidung wirklich einem bescheuerten Geldstück überlassen? Das ist doch Wahnsinn!", rief ich, aber es war zu spät. In meinen Ohren klang es wie eine Explosion, als die Münze auf den Boden traf und Richtung Tisch kullerte. Ich konnte noch immer nicht fassen, was wir da taten, aber es war zu spät. Die Münze rollte über die Fliesen, holperte über die Fugen und prallte schließlich gegen ein Tischbein. Zuerst sah es so aus, als wolle sie stehen bleiben und dort verharren. Dann fiel sie. Ein letztes Rotieren und sie blieb liegen. Die eingeprägte Zahl, das Sinnbild meiner Niederlage funkelte im Sonnenlicht. Ich hatte verloren. Claudia sah mich an, ein Siegerlächeln auf den Lippen.

"Ach komm schon. Das ist doch nur eine blöde Münze. Überlegs Dir noch mal", sagte ich.
"Nichts da, wir haben ausgemacht, dass die Münze entscheiden wird und das hat sie nun. Ich habe gewonnen." Sie war unerbittlich.
"Weißt Du noch, damals an der Adria?", flehte ich. "Oder das Wochenende in Mailand? Das kannst Du doch nicht einfach so ignorieren."
Aber ich hatte keine Chance. Claudia blieb hart und weidete sich an meiner Niederlage.
"Jetzt mach nicht so ein Gezeter. Was hat den die Adria oder Mailand mit unserem Abendessen zu tun", sagte sie. "Mir hängt das Essen vom Pizza-Service eben so langsam zum Hals heraus" und als wolle sie mich demütigen sagte sie den Satz, der mich um die kulinarischen Freuden Iatliens bringen sollte: "DIe Münze hat entschieden. Heute bestellen wir was beim Chinesen und damit basta!"
Ich startete einen letzten Versuch. "Aber Schatz, beim Italiener gibt’s doch Risotto. Das ist auch Reis. Das wäre doch eine gute Alternative."

Sie nahm mein Flehen und Betteln gar nicht zur Kentniss. In der einen Hand hielt sie den Flyer von "Mr. Wongs Chinese Dinner", mit der anderen führte sie das Telefon zum Ohr. Ich resignierte.
Auf dem Boden lag noch die Münze. Ich hob sie auf und drehte sie zwischen den Fingen. Dann legte ich sie auf den Tisch. Keine Pasta, keine Pizza, stattdessen irgendwelchen chinesischen Kram. Und das alles nur wegen einer blöden Münze. Warum hatte ich mich nur darauf eingelassen.