Du bist dir nur des einen Triebs bewusst;
O lerne nie den andern kennen!
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen;
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen.
- Faust -
Hinter dem Schuppen, an die Bretterwand gepresst,…
…schließt er die Augen und konzentriert sich. Auf seinen eigenen Herzschlag, der wie eine Ouvertüre seine Brust durchschlägt, angsterfüllt, plötzlich nicht mehr wahrgenommen zu werden. In seinen Träumen flieht er oft vor diesem Symbol seiner Lebenskraft, bricht aus, rennt fort vor seinem Herzen und hofft, dass er nie wieder davon eingeholt wird. Doch wenn er aufwacht, schlägt es in seiner Brust. Dieses verdammte Herz, das einfach nicht aufhören mag zu pochen und ihm das erhitzte Blut durch die Adern zu treiben.
Er hatte nie den Mut dazu, es durchzuziehen. Dreimal hatte er es versucht und immer war er am Ende zurückgekehrt, hatte sich Feigling genannt und sich ins Gesicht geschlagen. Nach dem zweiten Mal hatte er den Kopf in den Schoß der Frau gelegt und geweint. Sie hatte ihm durch das Haar gestrichen und geflüstert, dass sie ihn liebe und für ihn da sei. Das war vor vier Jahren gewesen. Jetzt war sie nicht mehr da. Er hatte es nie erwidern können, das „Ich liebe dich“. Wenn sie oder auch die davor es gesagt hatten, krampfte sich etwas in ihm zusammen, trieb ihm die Übelkeit in die Kehle. Er wollte es sagen, wollte es so meinen, aber da war nichts in ihm, was der ihm entgegengebrachte Liebe glich. Innerlich war er leer.
„Konzentrier dich“, sagt er zu sich selbst und presst sich stärker an die Wand. „Du darfst jetzt nicht aufgeben, du musst ankämpfen dagegen.“ Das erste Mal, als er versucht hatte, sein Herz zu besiegen, war er 17. Er spürte es schon damals, tief in sich. Versteckt, wie ein böser Schatten. Ein Dämon, der den richtigen Moment abwartete. Damals wollte er sie wirklich, da hatte er nicht diese Kontrolle. Er erinnert sich an ihr blondes Haar, das engelsgleich über ihre Schultern gefallen war. An ihr Lächeln, wenn er ihren Weg kreuzte. Er wollte sie, das wusste er genau. „Vielleicht will sie dich auch“, hatte es in seinem Kopf geklungen, deshalb war er auf sie zugegangen. Sie erschrak und rannte fort. Er durfte sie nie wiedersehen.
Dieses Lachen. Es macht ihn verrückt. Hindert ihn an der Konzentration. Er will es doch nicht! Er weiß doch, dass es falsch ist! Nur ein Blick. „Ein einziger Blick“, flüstert er sich zu und rollt sich über die Bretterwand bis zur Ecke. Er spürt, wie sein Herz wieder schneller schlägt, wie es die erbärmliche Hitze in seine Adern treibt. Er hört sich atmen, unkontrolliert und schwer. „Nur ein einziger Blick“, wiederholt er und riskiert es.
Da sind sie. Stehen zusammen in ihrer kleinen Gruppe, wie fast jeden Nachtmittag. Kommen zum Rauchen her und zum Lachen. Sie setzen sich immer auf die Querstreben des nie beendeten Neubaus, ohne Furcht hinabzustürzen. Sie erzählen sich Geschichten. Er stellt sich dann immer vor, einer in diesen Geschichten zu sein. Doch er würde mehr machen als die Jungen darin. Er will mehr! „Konzentrier dich, gib ihm nicht nach“, zischt er und schlägt sich ins Gesicht. Er darf nicht nachgeben! Er muss widerstehen!
Einmal ist er unter ihnen hergelaufen, da war es schon dunkel. Er ist unauffällig, da kann er so was machen. Viele von ihnen hatten Röcke an und er hatte direkt unter ihnen hochgesehen. Hatte ihre Slips und Schlüpfer gesehen, ihre schlanken Beine, die zarten Formen der nahenden Weiblichkeit. Er hatte an diesem Abend geträumt, darin einzutauchen, sich hinzugeben. Hatte sich selbst in die Hand genommen und es in Gedanken getan. Dann hatte er es fortgewischt. Es und auch seine Gedanken daran. Und hatte es das bisher dritte und letzte Mal versucht. Aber er war ein Feigling.
„Feigling, du!“ Ja, das ist er. Ein Feigling! Erbärmlich fühlt er sich, wenn er hierher kommt und sie beobachtet. Wenn er dabei zusieht, wie sie lasziv die Zigaretten in ihre schmalen Münder stecken und von den Jungen erzählen, die ihnen Zettelchen zustecken. Pah, Zettelchen! Gefickt werden müssen sie! Nein! Das sind nicht seine Gedanken, nicht seine Wünsche! Das ist der Schatten, der da aus ihm spricht, der versucht ihn zu kontrollieren! Aber er wird nicht nachgeben, wird nicht schwach! Diesmal ist er stark.
Eine von ihnen kennt er gut. Sie ist seine Nachbarin. Er hat ihr einmal Nachhilfe gegeben, in Mathe. Die achte Klasse hat er wiederholen müssen, deswegen kannte er sich besser aus damit. Aber er hatte es abbrechen müssen. Nicht nur wegen dem Stress beim Vordiplom, auch wegen des Schattens, der immer lauter geworden war. „Fick sie!“, hatte er ihm ins Ohr gezischt. Aber er durfte es doch nicht! Deswegen war er gegangen. Er grüßt sie nicht mehr, wenn er sie im Flur trifft. Aber sie lächelt ihn trotzdem noch an.
„Vielleicht will sie dich auch“, denkt er dann manchmal. Und deshalb darf er sie eigentlich nicht wiedersehen. „Nur ein einziger Blick“, flüstert er trotzdem oft. Und riskiert es. Fordert es heraus. Solange bis er endlich gewinnt. Oder endgültig verliert. Er muss sich nur konzentrieren und seinen Herzschlag beruhigen, dann ist alles gut. Diesen Herzschlag, der wie eine Ouvertüre seine Brust durchschlägt, angsterfüllt, plötzlich nicht mehr wahrgenommen zu werden.