Sonntag, 8. Oktober 2006


Spiegelungen

Hinter dem Schuppen, an die Bretterwand gespresst fiel er vornüber in sich zusammen auf die Knie. Beide Hände auf das Gesicht gepresst konnte er seine Tränen nicht unterdrücken. Die Zeit der Suche, der quälenden Ungewissheit und der immer wieder aufkeimenden Zweifel war heute an diesem Ort vorbei. Nach Minuten des Innehaltens richtete er sich langsam wieder auf. Seine Hände zitterten noch, als er das Foto langsam vom Boden aufhob und den Staub behutsam wegstrich. Ein nie gekanntes Gefühl von Wut und Ohnmacht erfasste ihn und er rannte mechanisch so schnell er konnte in Richtung des nahen Getreidefelds. Dann verlangsamten sich seine Schritte und er blieb stehen. Sein Atem beruhigte sich und die Gedanken ordneten sich langsam wieder, bis er nur noch das sanfte Rauschen des Getreidefeldes vernahm. Mit einem Ruck drehte er sich um und schaute gebannt auf die fast malerisch schöne Szenerie. Er streckte sein Hand aus und seine Augen schauten abwechselnd auf das Foto und die Landschaft vor sich. Es gab keine Zweifel. Es war hier geschehen. An einem warmen Sommertag wie heute. Genau an dieser Stelle, an der das Foto in Sekundenbruchteilen eine andere Zeit verewigt hatte.

Der Besuch der Ausstellung an einem Wintertag war nie geplant gewesen und doch der Beginn einer langen Suche. Seine Brille beschlug sich, als er in das warme Gebäude eintrat. Er schritt durch die hohen Räume und beachtete zuerst kaum die großflächigen schwarz-weissen Fotos. Langsam wich die Kälte aus seinem Körper und er lockerte seinen Schal. Das leise Murmeln der Besucher hallte dumpf wie in einer Kathedrale. Unwillkürlich folgte er dem gleichen Ritual. Ein Betrachten aus der Ferne und anschließend ein zögerndes Annähern. Der Schrecken, den diese Fotos des Mordens ausstrahlten, verdichtete sich mit jedem Meter, denen er sich näherte. Diese Augen faszinierten ihn. Diese großen dunklen schwarzen Augen. Einige schauten direkt in die Kamera, als wollten sie dem Fotografen stumm um Hilfe anflehen. Andere lachten mit weit aufgerissenen Augen, während sich ihre Gesichtszüge zur Fratze verwandelten. Er trat noch näher und erschrak beim Anblick dieses lachenden Menschen, der rechts am Bildrand fast unscheinbar stand. Diese Ähnlichkeit war verblüffend, trotz des tief einfallenden Schattens, den sein Helm auf das Gesicht warf. Wie in einem alten matten Spiegel sah er plötzlich sein eigenes Lachen, verkleinert auf die Größe einer Briefmarke. Er drehte sich um und lief in Richtung des Ausgangs.

Er konnte sich nicht rühren und fühlte sich fest verwachsen mit diesem Stück sandigem Boden. Keine zwanzig Meter vor ihm der Schuppen und die fast vollständig mit Efeu zugewachsene Bretterwand. Auf dem vergilbten Foto konnte man noch die grobe Holzmaserung erkennen, die nach über einem halben Jahrhundert von einem grünen lebendigen Pflanzenmeer bedeckt war. Er löste sich bewusst aus seiner inneren Erstarrung und ging Schritt um Schritt auf diese übergroße gleichförmige Wand zu. Kaum einen Meter entfernt tauchten seine Hände in das Meer ein. Immer schneller riß er Stück um Stück das Grün von der Wand, wobei er das Schmerzen der Hände nicht wahrnahm. Das Holz war übersät mit kreisrunden ausgefransten Löchern. Erst kamen wenige zum Vorschein, dann immer mehr. Die ganze Wand war übersät mit diesen Löchern. Dutzende von kleinen münzengroßen Löchern. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, rannte über den schmalen Feldweg in Richtung Straße zu seinem Wagen und griff hastig nach der Kamera. Die ganze Nacht würde er fahren, um dem stummen alten Mann gegenüberzustehen, den er seit Monaten nicht gesehen hatte. Er schwor sich, in die Augen dieses Mannes zu schauen, wenn er ihm wortlos beide Fotos in die Hände drückte. Die Augen eines Mannes, dessen Fleisch und Blut er war.

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