Mittwoch, 4. Oktober 2006
Vogelfrei

Hinter dem Schuppen, an die Bretterwand gepresst…

…ist es oft sehr ruhig. Hier ist man frei von all den Zwängen, die die Welt einem aufladen will. Hier gibt es nur das Zirpen der Grillen, wenn es zum Abend hingeht und nur der feine Geruch der kleinen Bäckerei, wenn sie morgens neue Brötchen nachbackt. Der Duft steigt in die Höhe und wird nur von der leichten Brise bis hierhin getragen, der Wind muss also günstig stehen. Ist es nicht so, dann kommt hier nichts an von der Welt da draußen, den Kiesweg hinunter.

Sie schaut um die Ecke des Schuppens. Ihre Brust brennt vor Anstrengung, ihr Atem will aus den Lungen ausbrechen, doch stößt immer wieder an die undurchdringlichen Wände. Blinzelnd betrachtet sie den leicht welligen, graublauen Wasserteppich, auf dem sich die Abendsonne spiegelt und ein Farbenspiel einläutet, an dem sich auch der Himmel beteiligen möchte, so glanzvoll lässt er seine Wolkendecke aufbrechen für die Sonne und verwandelt den Horizont in eine Mär aus Feuer und Eis. Träge lassen die Trauerweiden ihre Äste in das Wasser hängen, ganz so, als suchten sie eine Erfrischung. Die Temperaturen sind bereits zurückgegangen, aber es hat kaum zur Erleichterung beigetragen. Die Medien sprechen wieder einmal von einem Rekordsommer – bereits der dritte in diesem jungen Jahrhundert.

*

Sonne und Wärme. Das Alleinsein und der kühle See. Freundschaft und Liebe. Das alles hatte sie heute hierhin geführt. Isabel hatte bereits im Schilf gelegen und die Sonne ausgekostet. Ihre Haut hatte geglänzt von der Milchlotion, ihre Füße hatten miteinander gespielt wie zwei junge Hunde, die das erste Mal freien Auslauf bekamen. Isabel hatte sie gar nicht bemerkt, ihre Augen waren geschlossen gewesen, nur geblinzelt hatte sie manchmal. Einige Minuten war sie reglos neben ihr stehen geblieben, um ihren makellosen Körper zu betrachten. Sie wollte zusehen, wie sich die üppigen Rundungen im Schein der Sonne bräunten, wie die straffen Lenden glänzten, wollte mit den Augen den Weg der kleinen Schweißperle verfolgen, wie sie über den flachen Bauch glitt und sich dann zwischen den Schenkeln des Dreiecks fing.
Für sie, die still und mutig daneben stand, war Isabel der Inbegriff der Schönheit und zugleich die Quelle riesengroßen Neids.

„Du bist wunderschön“, hatte sie gesagt und damit Isabel aus ihren Träumen gerissen. Isabel hatte gelächelt und sich halb herumgedreht. Ihre schönen Brüste hatten auf den Oberarmen geruht und die weißen Zähne in ihrem zarten Schmollmündchen hatten mit der Sonne um die Wette geschienen. Sie hatte einfach nur gelächelt und schon war sie die Gewinnerin. Isabel konnte das gut. Immer war sie die Gewinnerin. Sie bekam das, was sie wollte und musste sich nicht einmal dafür anstrengen. Ihr flogen die Dinge zu, wie ein Vogel, der eine Tages unerwartet auf der Fensterbank sitzt und um den man sich dann kümmert, aus Mitleid und aus Zuneigung. Isabel kümmerte sich meist nur kurzfristig um ihre Vögel. Sie langweilten Verantwortung und Beständigkeit. Fast immer gingen die Vögel ein.
Ihre Bewunderin war da anders. Sie liebte das Langfristige, suchte immerzu nach dem anhaltenden Glück. Und sie wusste, dass man manchmal für sein Glück kämpfen musste, dass man manchmal nicht darum herumkam, für das Opfer zu bringen, was man liebte und behalten wollte. Nur so hatte sie auch mit ihm glücklich werden können, mit ihrem neuen Freund. Liebe trieb sie, aber auch Ängste, sie könnte nicht gut genug sein für ihn.

Sie hatte sich ausgezogen und sich neben Isabel gelegt. Ihr Körper war nicht annähernd so makellos wie der, der besten Freundin. Sie war nicht gesegnet worden mit einem Gewinnerlächeln, sie musste arbeiten und kämpfen für das, was sie haben wollte. Isabel redete nicht mit ihr, sie konzentrierte sich wieder auf das Braunwerden, das Schönsein, wie man es von ihr verlangte, wenn man eine braungebrannte Schönheit war.

Als ihre beste Freundin nähergerutscht war und mit ihren Fingern die Rundungen der Brüste nachgezeichnet hatte, schien Isabel es erst gar bemerkt zu haben, so ruhig und still war sie geblieben. Doch dann waren ihre Brustwarzen hart geworden und ihr Atem schneller. Eine ihrer Hände mit den langen, schlanken Fingern war den Bauch hinuntergerutscht und hatte begonnen, dem kleinen Schweißtropfen Gesellschaft zu leisten. Als eine Zunge ihre Brüste zu liebkosen begonnen hatte, hatte sich Isabel nicht mehr zurückgehalten, ließ stattdessen ihre Finger zwischen den Lippen kreisen und entfachte nicht nur dort ein Fegefeuer aus verbotener Lust. Auch ihre beste Freundin hatte schweren Atem, träumte sich in eine unbändige Leidenschaft.

„Lass uns schwimmen gehen“, hatte Isabel irgendwann gesagt und gelächelt und somit das Schwimmen unausweichlich werden lassen. Nackt und ohne weitere Scheu voneinander waren die beiden in den See gegangen, hatten sich dort unter Wasser berührt. Ihre Lippen waren aufeinander getroffen, ihre Zungen hatten sich zum Spiel zusammengefunden, wie zuvor Isabels Füße am Ufer. Immer wieder hatte sie Isabel ihre Finger spüren lassen, so dass diese lauter stöhnend, ihre Mauern fallen gelassen und sich hingegeben hatte.

Es war dieser eine Satz, den Isabel unbedacht hinausgestöhnt hatte, der alles beenden sollte. „Du bist fast so gut wie Tim.“ Sie hatte ihre Finger schlagartig zurückgezogen, doch Isabel hatte nur gelacht und sie angeschaut. „Was denn?“, hatte sie gefragt, als sei nichts gewesen. In Gedanken war sie bestimmt schon wieder bei einem ihrer anderen Vögelchen gewesen. Doch diesmal wurde sie um Aufmerksamkeit gebeten.

*

Sie atmet jetzt wieder ruhig und regelmäßig. Ihre Gedanken sind geordnet, nicht mehr so chaotisch wie vorhin, als sie aus dem Wasser gestiegen war. Sie hatte sich abgetrocknet und angezogen, den Blick immer wieder auf Isabel gerichtet. Doch irgendwann hatte sie nicht mehr gekonnt und war hinter den Schuppen gelaufen. Hier sollte alles wieder gut werden, hier wollte sie die Ruhe wieder finden. Sie hatte ihre Aufregung einfach gegen das geblichene Holz gestoßen, hatte ihre Ängste und alles, was raus aus ihrem Körper sollte, hinausgebrochen.
Nun ist sie wieder stark, wieder sie selbst.

Isabel ist wohl zu Fuß gekommen, sie hingegen ist mit dem Fahrrad hier. Die untergehende Sonne nimmt nach und nach die Erinnerung und die Last von ihren Schultern. Tabula Rasa, denkt sie sich und schaut in die kleine rote Kugel dort hinten am Horizont, wie sie immer mehr von ihm aufgefressen wird, bis sie verschwunden ist. Jetzt will auch sie fort und schiebt ihr Fahrrad auf den schmalen Kiesweg, der ins Dorf führt, zur kleinen Bäckerei. Die Grillen zirpen und irgendwann verstummen auch sie, huldigen der neuen unbekannten Stille hier am See.

Auf der Wasseroberfläche zerplatzen kleine Bläschen.