Samstag, 12. Juli 2008


Immer weiter

Natürlich war er wütend über sich. Oft, oft und oft hatte er sich gesagt, dass es andere Wege gab, geben musste. Schon damals, als die Mutter ihm beim ersten Mal traurig über den Kopf gestreichelt hatte.
"Nicht so!", sagte sie. "Rede mit ihnen."
Später hatte er dieses Kopfstreicheln, das immer gleich war, zu hassen gelernt. Da begann er, gegen diese Streichelhand zu stubsen, unmerklich erst und später immer heftiger. Und noch später schob er die Hand einfach weg.
"Du hast ja keine Ahnung!", sagte er. Denn er hatte das mit dem Reden probiert, ein paar Mal. "Das da draussen ist die Hölle. Wer da zu viel redet, sagt bald gar nichts mehr."

Er hatte zu trainieren begonnen, nicht im Verein, sondern zu Hause. Das durch kleine Jobs verdiente Geld setzte er in allerhand Sportgeräte um, die sein Zimmer verstopften und von seiner Mutter "Folterinstrumente" genannt wurden. Manchmal stand sie, während er schwitzend irgendwelche Gewichte hob, sah ihm zu und forderte ihn auf: "Lies doch mal ein Buch."
Es war die falsche Gegend, um Bücher zu lesen. Aber das wollte seine Mutter nicht verstehen. Er verzichtete bald darauf, ihr irgend etwas erklären zu wollen. Sie begriff einfach nicht.

So wenig wie der Jugendrichter, der ihn ein Mal ermahnte und auch ein zweites Mal, beim dritten Mal aber wegsteckte, so lange bis eben kein Jugendrichter mehr für ihn zuständig war. Da hatte er längst verstanden, dass andere Menschen anders lebten. Dass man weg ziehen kann und etwas Vernünftiges tun. Wäre da nur nicht diese Wut gewesen, die eigentlich immer da war. Sie kochte, meistens auf kleiner Flamme, aber oft genug auch über. Inzwischen bei den kleinsten Anlässen.
Er selbst hasste diese laute, provozierende Art, in der er mit den Leuten sprach, doch inzwischen konnte er nicht mehr anders. Es schien ihm die einzig mögliche Art, mit ihnen umzugehen. Wenn er selbst provozierte, hatte er die Abläufe in der Hand, war stets schon auf dem Sprung, wo die anderen noch nichts vom Fortgang ahnten. Es ging immer gleich aus und spielte keine Rolle, ob er den ersten Schlag führte oder sie. Er siegte jedes Mal. Der Ruf des Schlägers eilte ihm voraus wo immer er hin kam und brachte ihm einen ängstlichen Respekt ein.

Hier, in seiner Einzelzelle, wusste er sehr genau, wie es anders zu machen war. Und es gab auch keinen Grund mehr, sich selbst und die eigene Kraft ständig zu beweisen. Begegnete er anderen Häftlingen, wichen die ihm angespannt aus. Sie konnten nicht wissen, dass ihn diese Dinge schon lange nicht mehr interessierten.
Er las jetzt all die Bücher, die er - seiner Mutter zufolge - schon vor etlichen Jahren hätte lesen sollen. Er war ruhiger geworden und nachdenklicher, und er kannte nun jede Menge Worte, die er früher als "Dommzeuch" abgetan hatte. Er wusste jetzt, dass sein Leben ein einziges Klischee war. Aber es war auch sein Leben.

Juli 2008  ... link