Samstag, 24. Februar 2007


Gesichtslos

Gebannt starrten sie auf das Schauspiel, das sich ihnen bot. Die starrenden Menschen umschlossen das Zentrum wie ein Ring. Er hörte Schreie und Gebrüll. Was führen die denn da vor, ging es ihm durch den Kopf. Er versuchte den gedämpften Geräuschen zu lauschen, er versuchte einzuordnen was er hörte.
Klar, die Menschenansammlung hatte er längst wahrgenommen, während seine Gedanken woanders weilten. Auch die Geräusche waren längst in seinem Unterbewußtsein angekommen, drangen aber mittlerweile in sein Bewußtsein vor.
Straßenschauspieler die solch ein Interesse hervorrufen? Das ist unwahrscheinlich. Irgendwelche Peinlichkeiten Anderer, an denen sich die Menschen ergötzen?

Jetzt veränderten sich die Geräusche in seinem Ohr. Eindeutig meinte er die Stimme zu erkennen. Eindeutig war der verzweifelte, flehende Unterton. Das konnte doch nicht sein.
Es durchschoß ihn ein einziger Gedanke. Er mußte dorthin, ins Zentrum. Er näherte sich dem Rand der Menschenmenge. "Darf ich durch?" Nichts regt sich. "Lassen Sie mich durch", schon lauter. Nichts passiert. Jetzt fängt er an zu schieben und zu drücken. Es ist kein Durchkommen. Er kniete sich hin, versuchte zwischen den Beinen durchzukrabbeln, kam aber auch nicht weit und zog sich zurück. Nun mischte sich langsam Wut in seine Aktionen.
Immer wieder rannte er gegen den Menschenring an. Immer wieder warf ihn die federnde Masse wieder zurück. Er wußte nicht wieso, aber sein Bedürfnis die Menge zu durchdringen wurde immer größer. Die Not, dass seine Hilfe gebraucht würde, dieser Gedanke war der Einzige, der gerade in ihm wohnte. Hinzu kam, dass diese Undurchdringlichkeit ihn wütend machte.
Jetzt fällt ihm auf, dass die einzelnen Menschen kaum Konturen haben, sie sind gesichtslos. Sie haben ihr Gesicht verloren. "Ja," denkt er, "sie haben ihr Gesicht verloren." Er weiß noch wie er selbst aussieht, er weiß wer er ist und er muß dahin.
Mit der Energie der Verzweiflung rannte er los, sprang vor der Menge hoch, landete auf ihren Köpfen und krabbelte, quasi auf ihnen, nach vorn. Währenddessen wurde er von unten geschubst und geboxt. Er liess sich nicht beirren, jetzt wo er endlich, scheinbar, einen Weg gefunden hatte. Kurz bevor er den vorderen Rand der wabernden Menge erreichte, richtete er erstmalig seinen Blick auf das Schauspiel. Sofort erkannte er, dass seine schlimmem Befürchtungen berechtigt waren. Nein, das war kein Spiel, das war grausamer Ernst. Er glitt am vorderen Rand der Menge hinab und befand sich nun im inneren Kreis, während seine Gedanken rasten. Wie war diesem grausamen Hünen beizukommen? Was konnte er tun. Wieviele Leute waren nötig?
Verzweifelt blickte er sich um. Er rannte von einem kräftiger aussehenden Kerl zum Nächsten, flehte "Komm, hilf mir, wir müssen ihn davon abhalten". Niemand rührte sich. Er bekam noch nicht einmal eine Antwort. Gebannt starrten sie alle nur auf das Schauspiel, das sich ihnen bot.
Plötzlich wußte er was er zu tun hatte. Er fixierte sein Ziel, spannte jede Faser seines Körper an, und rannte los, mit dem Mut der Verzweiflung. Sein Denken war ausgeschaltet.

Gerade in dem Moment, kurz vor Erreichen seines Ziels, erwachte er, schweißgebadet. Ohne zu überlegen griff er zum Telefon, wählte die ihm sehr bekannte Nummer und lauschte dem Freizeichen. "Bitte geh ran.." murmelte er vor sich ihn. "Bitte".

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