Sonntag, 22. Juli 2007
Rattenmurmeln

Man hatte schon wieder Ratten im Soufflé gefunden. Schon wieder? Ekel quoll ins Denken, der süße Duft der Verwesung bohrte sich in die Nase. Als das Soufflé groß und dampfend serviert wurde, stach man gierig den Löffel hinein und führte ihn schwungvoll zum Mund, wo die Zunge Alarm ins Geschmackszentrum funkte, während sie irritiert die Knochen des Rattenkopfes zu identifizieren versuchte. Reflexhaft spuckte man die unerkannte Nahrung aus. Andere Restaurantbesucher schauten angewidert herüber.
Das Gesicht gegenüber wurde blass und quetschte „Sie benehmen sich unmöglich, das ist doch nur eine Ratte“ zwischen den Zähnen hervor.
Der Kellner rauschte an. „Oh mein Gott, hat es Ihnen etwa nicht gemundet? Ich werde das sofort entfernen.“
Man sah ihn verständnislos an: „Aber das ist eine RATTE!“
„Aber natürlich! Was denn sonst?“
„Im Dessert?“
Fassungslose Blicke. Irritiert erklärte der Kellner: „Dies ist das beste Bestalitätenrestaurant der Stadt. Alle Gerichten werden nur mit ausgesuchten Zutaten hergestellt. Das Soufflé Surprise wird natürlich nur mit Zuchtratten aus kontrollierter Züchtung komponiert.“
Man fragte sich, was noch in den Gerichten enthalten gewesen sein mochte, als Ekel und Brechreiz das Ruder übernahmen. Würgend lief man in Richtung der Toiletten.

Die Speisenmasse formte sich im Magen zu einer harten Faust, die Innereien und Zwerchfell mit dumpfen Schlägen malträtierte. Man stolperte voran, erreichte die Tür und stand in der Küche. Dort brodelte und bruzzelte, dampfte und zischte es. Inmitten des Infernos wirbelte der sechsarmige Koch durch die Schar einäugiger Küchenjungen, die hektisch allerlei Tier zerlegten. Der Blick glitt panisch über Spinnen, Ratten, Würmer, Frettchen, Mäuse, Schlangen und blieb an einem Skunk hängen. Hatte man ähnliches eben gegessen? Wieder boxte die Faust in die Eingeweide.
Der aufgeregte Sous-Chef kam mit den Tentakeln wedelnd angelaufen. „Sofort raus hier! Unbefugte haben hier keinen Zutritt. Raus, raus!“ Schon schob er einen mit glibberigen, aber kraftvollen Armen in den Flur, wo eine Gruppe uniformierter Wesen mit Springfüßen und bizarr geformten Oberkörpern aufgeregt diskutierte. Am Ende des Ganges sah man eine Tür und stürzte darauf zu. Nur raus hier.


Man hatte schon wieder Ratten im Soufflé gefunden. Vorsichtig hatte man den herrlichen Deckel mit spitzen Löffel geöffnet und mit verzerrtem Gesicht die Körper der mumifizierten Nager freigelegt. Man mochte einfach keine Ratten mehr.

Nach der letzten Flut waren die Ratten aus den Sümpfen geflohen, hatten sich in wuselnden Scharen in die Stadt gestürzt und drohten alle Vorräte zu vernichten. Sie waren so hungrig, gierig nach allem essbaren. Tagelang hatten die Menschen hilflos zugesehen, wie die Meute in alle Lagerräume und Speisekammern eingefallen war, um orgiastischer Völlerei zu frönen. Man legte giftige Köder aus, die Ratten aber waren schlau. Rattengreise hatten sich als Vorkoster hergegeben und nur, wenn sie das Mahl überlebten, fraßen auch die anderen. Rattenmütter hatten die Jungen mit kleinen Dosen der Köder gefüttert und sie so immunisiert. Die Ratten vermehrten sich schneller, als man sie dezimieren konnte. Man hatte sie gejagt, verbrannt, in Fallen gelockt, aber für jede erlegte Ratte schienen drei neue aufzutauchen.

Dann war der Rattenfänger gekommen. Tagelang hatten die Bewohner alle Nahrungsmittel in LKW, Bussen, Autos und Schubkarren ins Stadion gekarrt, hatten ungeheure Berge der verschiedensten Lebensmittel aufgehäuft und warteten. Die Ratten kamen aber nicht. Schon hing fauliger Duft über den Nahrungsbergen, als der Rattenfänger mit einer Gulaschkanone voll gerösteten Specks durch die Straßen fuhr, dabei betörende Weisen auf der Schalmei spielend. Tatsächlich schlossen sich ihm schnell einige Ratten an, denen weitere folgten, bis er endlich den ekelhaften Triumphzug durch rattenschwarze Straßen ins Stadion führte. Der Klangteppich aus Quietschen, Pfeifen, Trippeln und Trappeln der millionenfüßigen Schar fiel mit der Nachhut der Rattengreise in sich zusammen. Stille. In den Straßen.

Im Stadion aber herrschte das große Fressen. Von Gier berauscht, vom Überfluss besoffen hatten sich die Tiere schlingend in die Nahrungsberge gebohrt. Schmatzen, Grunzen und Kauen, wohin man hörte. Dann hatte das Schlachten begonnen. In ihrer Wut schlugen die vom Hunger gezeichneten Menschen gnadenlos auf die Pelztierchen ein. Ein Gemetzel. Kreatur gegen Kreatur. Im hermetisch abgeschirmten Kessel hatten die Nager wenig Chancen. Erschlagene und geköpfte Leiber vermischten sich mit dem Nahrungsbrei und boten ein gruseliges Bild. Die überlebenden Ratten wurden in Gattern gefangen und sollten für lange Zeit die größte Nahrungsquelle sein.
Später als dies schon fast nur noch erzählte Geschichte war, fanden abgedrehte Köche es originell, Ratten als ironisches Zitat für ihre Kreationen zu verwenden.


Man hatte schon wieder Ratten im Soufflé gefunden. Nein, das Vergnügen wollte man der blöden Bande nicht gönnen. Jetzt bloß keinen Laut ausstoßen, kein hastiges Aufstehen, kein Würgen, kein Ekel. Man hätte die Mischpoke gerne geschockt, indem man das Tier ungerührt aß, aber man war satt.
„Na, da haben sie ja das Soufflé Surprise bekommen, Sie Glückspilz!“ witzelte der laufende Quader, der den Abteilungsleiter spielte und sich für komisch hielt.
Wut kroch das Rückgrat hoch. Man sollte diesem Clown ein heißes Soufflé mitten ins Gesicht drücken. Aber das war schon kalt.
„Ja, das ist gemein, immer bekommen Sie die Ratten.“ Das war der Vorzimmerdrache vom Chef. Sie zehrte kümmerlich von dem aus dem Chefzimmer leckenden Abglanz der Macht.
„Stimmt, die Ratte hätten Ihnen wirklich zugestanden! Sie haben ja auch so schöne spitze Zähne und einen schlechten Geschmack“, knurrte man, stellte die verhasste Nachspeise vor ihre Nase und trat unter dem Getuschel und Gekicher der Kollegen ab.


Man hatte schon wieder Ratten im Soufflé gefunden. Wie man diese Restaurants hasste und doch landete man immer wieder in einem. Immer das gleiche Spiel.

Man ging ins beste Haus am Platz und wurde von dezenten Kellnern hofiert. Der andere Gast fachsimpelte mit dem Sommelier über die Vorzüge einzelner Weine. Das Gespräch plätscherte in freundlicher Harmlosigkeit vor sich hin. Man war elegant und gelangweilt. Stieß mitfühlende Laute aus, um das Gegenüber im eitlen Monolog zu bestärken. Man ahnte wie es weitergehen würde. Kultiviert und gedankenleer. Bis das Dessert kam. Resigniert öffnete man das Soufflé, fand die Ratte und wartete darauf, welches Panoptikum nun losbrechen würde. Doch es folgte nur freundliche Finsternis.


Man hatte schon wieder Ratten im Soufflé gefunden. Die Biester schafften es immer wieder, blitzschnell in die wartenden Souffléformen abzutauchen, die sie dann von innen aushöhlten und in denen sie den heissen Backofentod fanden. Man erschreckte bei jedem Fund einer Füllung aus vertrockneten Kadavern. Klebriger Ekel verströmte schlechten Geschmack, der die Träume mit Rattenaroma kontaminierte.