Im Morgengrauen, als die von Osten aufsteigende Helligkeit ganz langsam begann die bis dahin undurchdringliche Dunkelheit aufzubrechen, saß sie im Bus nach Hause. Endlich. Was hatte sie nur dazu getrieben, so lange dort zu bleiben bis dass es hell wurde? Wollte sie nicht einfach nur einen schönen Abend mit Freunden haben und dann zuhause müde ins Bett fallen? War es, weil sie nicht müde war? Oder war es einfach nur ein weiteres so passendes Puzzlestück aus ihrem Leben? Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?
„Das ist alles so falsch… so falsch…“ murmelte sie. Sie hätte auch lauter sprechen können. Die einzige andere Person im Bus saß weiter vorne und hätte sie sowieso nicht gehört.
Sie kramte das Buch raus, das sie für die Heimfahrt mitgenommen hatte. Auf dieser Strecke las sie meistens. Was sollte sie auch sonst tun? Der Weg war verdammt lang. Aber heute konnte sie nicht. Sie starrte auf die Worte, die ihr vorkamen, als seien sie einer anderen Sprache entnommen, so wenig verstand sie sie. Sie starrte aus dem Fenster. Schön war die Stadt nicht. Und in der langsam anbrechenden Morgendämmerung, menschenleer, sah sie noch weniger einladend aus als sonst. Aber sie mochte die Stadt trotzdem. Oder vielleicht gerade deshalb. Nichts Vereinnahmendes, nichts, das sagt „Bleib!“. Keine Erwartungen. Man bleibt, genießt, und geht. Oder bleibt. Wann und wie man will.
Pfff, wenn das so einfach wäre!
Verrückt! Und falsch! „Falsch, falsch, falsch.“ Das alles war so falsch. Warum konnte sie nicht einfach den lieben, der sie auch liebte? Sie hatte ihn doch mal geliebt! So sehr. Am Anfang hatte es wehgetan. Keine Erwartungen. Das kann auch schwer sein. Sie liebte ihn von Anfang an. Er sie nicht. Dann, mit der Zeit, näherten sie sich einander an. Und das war wohl die schönste Zeit. Glück. Glück ist so zerbrechlich. Sie hatte immer Angst davor, dass es zerbrechen würde. Sie hatte es immer wieder zerbrechen sehen. Bei anderen. Sie glaubte nicht an die perfekte Liebe. Wollte nicht daran glauben. Aus Angst, dass sie sie verlieren würde, in dem Moment, in dem sie an sie glauben würde.
Und ist nicht genau das geschehen?
Erst begann er, sie zu überholen. Plötzlich liebte er sie mehr als sie ihn. Das war merkwürdig – was es doch immer andersherum zuvor. Es war, als habe sie plötzlich all das, was sie immer haben wollte. Und alles nur, um festzustellen, dass sie es eigentlich gar nicht wollte. Oder doch? Sie wusste es nicht mehr.
Und dann kam irgendwann der Zeitpunkt, an dem sie feststellte, dass sie ihn nicht nur weniger liebte als er sie. Sie liebte ihn gar nicht mehr.
Und es war, wie sie es immer befürchtet hatte. Sie hatte nicht mehr damit gerechnet. Sie beide hatten nicht mehr damit gerechnet. Waren sich ihrer Liebe plötzlich so sicher gewesen. Zu sicher.
Draußen schalteten sie die Lichter aus. Nun war es wirklich ein neuer Tag. Sie würde so müde sein, wenn sie in wenigen Stunden aufstehen würde. War es das wert gewesen?
Und dann gab es den, der sie liebte, oder zumindest glaubt, es zu tun. Er müsste es besser wissen. Er wusste um ihre Gefühle. Dass sie nicht verliebt war. Es nicht ändern konnte. Dass es aber einen gab, der sie liebte und dass dieser nun litt. Er müsste wissen, dass es nicht gut war, sie zu lieben. Konnte er denn nicht klüger sein?
Noch einer, der Erwartungen hatte. Zwar sagte er, er wisse, dass seine Liebe aussichtslos war. Und doch. Immer war er um sie herum. Wollte Zeit. Wollte Aufmerksamkeit. Verstand er denn nicht, dass es genau das war, was sie gerade nicht geben konnte? Wenn schon nicht dem anderen, wie dann ihm? Konnte er sie nicht in Ruhe lassen?
Konnten sie sie beide nicht in Ruhe lassen?
Natürlich hätte sie das genauso einfach nur sagen können. Und bis auf den letzten Satz hatte sie das ja auch getan. Hatte verletzen müssen, um selbst nicht kaputt zu gehen. Aber ganz hatte sie es nicht geschafft. Ganz verlieren wollte sie sie nicht. Sie mochte sie ja. Gut, der eine hatte kaum Bedeutung für sie, war er doch erst vor kurzem zu einer Art Freund geworden. Aber den anderen kannte sie schon so lange. Sie hatten so eine gute Zeit. Das kann man doch nicht einfach so wegwerfen.
Sie mochte ihn ja. Sie liebte ihn nur nicht mehr.
Sie wusste immer, dass er nicht der Typ für Freundschaften war. Wenn vorbei, dann richtig. Und dafür war sie noch nicht bereit. Ganz oder gar nicht. Erwartungen. Immer wieder Erwartungen.
Erwartungslos begann, was nicht hätte beginnen dürfen und sie genau hierher brachte – in diesen Bus um eine Zeit, zu der sie eigentlich längst in ihrem Bett liegen sollte.
Er wusste, dass sie einen anderen hatte. Und er wusste, dass sie trotzdem mitkommen würde. Er wusste nicht, ob sie es wiederholen wollte. Aber sie wusste, dass sie es tun würde. Auch wenn sie es verneinte, als sie sich selbst die Frage stellte. Sie wusste, dass es bedeutungslos für ihn war. Und für sie sein sollte.
Und da war sie wieder. In ihrem alten Muster. Scheinbare Freiheit. Kommen und gehen wann und wie man will. Welch ein Unsinn! Gefühle, die sie nicht haben wollte. Weil sie nicht erwidert werden würden. Weil sie nirgendwo hin führten. Weil sie doch einen anderen lieben sollte. Es wenigstens versuchen sollte. Erwartungen. „Nur keine Erwartungen haben“, flüsterte sie und schüttelte den Kopf.
Beim zweiten Mal ‚passierte’ es einfach nur so, so wie beim ersten Mal. Das nächste Mal war schon beinahe geplant. Zumindest wussten sie beide, dass es geschehen würde.
Das war nicht Freiheit. Das war nicht Liebe. Sehnsucht vielleicht. Oder Davonlaufen. Davonlaufen wovor genau? Sehnsucht wonach?
Sie wusste es nicht. Müde stieg sie aus dem Bus.