Montag, 19. März 2007
Die Überfahrt

Im Morgengrauen, als die von Osten aufsteigende Helligkeit, ganz langsam begann, die bis dahin undurchdringliche Dunkelheit aufzubrechen, hatte ich endgültig verlernt, zu lieben.

Das Schiff war noch gute 3 Stunden vom Ufer entfernt, und ich hatte verlernt, zu lieben.
In einem warmen fremden Land würde ich von Bord gehen, ohne zu wissen, wie man liebt.
Toll...

Dabei waren wir doch erst vor 2 Tagen gemeinsam an Bord gegangen. Er und ich.
Nur Augen für uns hatten wir gehabt und lächelten der neuen Welt mit den malerischen weißen Stränden teenager-liebesblind entgegen.
Die anderen Passagiere waren uns absolut egal. Wir hätten sie noch nicht einmal bemerkt, wenn sie alle in unserer Kajüte um unser Bett herum gestanden hätten.
Verdammt, konnte dieser Kerl gut küssen...

Ich habe absolut keine Ahnung, was seitdem passiert ist.
Nicht, dass ich mein Gehirn ohne Unterbrechung danach fahnden lassen würde – dafür habe ich ja nun wirklich keinen Grund – aber, bisher kann ich mir einfach nicht erklären, welchem denkwürdigen Umstand ich meinen aktuellen Seelenzustand zu verdanken haben soll.
Nun steh ich hier an an Deck dieses Riesenkreuzers und habe also verlernt, zu lieben.
Super Diagnose.

Er konnte nicht nur gut küssen. Zauberhaft ist er gewesen. Nein, ehrlich. Ganz zauberhaft. Und schön. Schönes Lächeln, schöner Körper, schöne Hände und – ein wirklich wunder-, wunderschönen Körper.
Irgendwie hatte er mich immer an Honig erinnert. Süß, tief strahlend und klebrig.
Ich konnte von ihm einfach nicht genug bekommen. Wir hatten noch nicht mal den Hafen verlassen, als wir das erste Mal völlig ermattet und verschwitzt in unserer Kajüte von einander abließen. Wir hatten uns mit einer Leidenschaft geliebt, die nur Menschen kennen, die nicht mehr wissen, wie ein Leben ohne den Anderen an ihrer Seite überhaupt hatte jemals möglich sein können.
Wir sahen uns tief in die Augen als das Schiff ablegte und ich weiß noch, wie ich dachte: ‚wie habe ich mein Leben bis heute ohne dich geschafft? Wie war es überhaupt möglich, daß ich, ohne diese Hälfte, die mich zu vervollständigen scheint, überlebt habe? Wie nur? Diese ganze Zeit? Ohne Dich?’
Natürlich habe ich es nicht laut ausgesprochen. Bin ruckartig aufgestanden. Brauchte einen Kaffee und eine Zigarette. Immerhin kannten wir uns ja erst ein paar Wochen.

Diese gemeinsame Reise war sowieso mehr Zufall als Planung gewesen.
Jeanette hatte kurzfristig absagen müssen, weil ihre Schwester, kurz nachdem sie ihr drittes Kind zur Welt gebracht hatte, aus Gründen postnataler Gewichtsregulierung eine Rollerblade-Tour durch das nasskalte Hamburg machen mußte, das zum ersten Mal in diesem Jahr über Nacht unter einer Schneedecke verschwunden war. Pech für Jeanette’s Schwester: Hamburg hatte unter dieser Decke noch einen Panzer aus Blitzeis versteckt.
Nun war Jeanette’s Schwester gut in einem 4-Bett-Zimmer einer Chirurgischen Abteilung untergebracht während Jeanette sich zu tiefst wünschte, ähnliche Instrumente wie sie die Ärzte benutzt hatten, um das Bein ihrer Schwester zu richten, wären gegen die drei plärrenden Göhren - die sie nach den telefonischen Schrei-Heul-Vorwürfen ihrer in München lebenden Mutter, natürlich gegen hübsche Stewards und märchenhafte Strände eingetauscht hatte - auch nur ansatzweise erlaubt,
Die Rollerblades waren im Müll und Jeanette’s Ticket bei meiner neuesten Eroberung Toni gelandet.

Der erste Abend auf See war einfach nur traumhaft. Das Dinner war hervorragend, und nachdem wir das schiffseigene Casino um die beträchtliche Summe von 48,50 Euro erleichtert hatten, feierten wir unseren Gewinn noch unter einer der vielen Außentreppen. Meinen 500 Euro Hosenanzug kann ich jetzt wohl wegwerfen.
Achje, ich grinse schon wieder vor mich hin...

Am nächsten Morgen ging es los: Ich wachte auf und von der anderen Bettseite schlug mir fremder Atem entgegen. Zu nah. Viel zu nah.
Wegstoßen wollte ich ihn. Hatte nicht geklappt. Na ja, beim ersten Mal jedenfalls nicht. Mein zweiter Versuch war so gut, dass Toni sich neben dem Bett wiederfand. Er war sauer.
Ich auch! Nie war die Rede von dermaßen viel Nähe gewesen. Jeanette hätte mir nie ihren Atem in mein Gesicht gejagt. Da mochten unsere Nächte vorher noch so toll gewesen sein.
Was soll’s? Jetzt habe ich ja meinen Abstand. Jede Menge Abstand ist jetzt um mich herum. Hier, noch knapp 2 Stunden vor der angestrebten Hafeneinfahrt. Keiner, der mir zu nah kommt. Keiner, der ständig meine Hand in seiner vergraben will.

Ich bin frei! Jawohl, und dafür lohnte sich jawohl jeglicher angeblicher Anfall von Liebes-Alzheimer! Mir geht’s richtig gut! Viel besser, ohne so ein fremdes Luftgebläse!
Aber küssen konnte er. Und diese Hände. Er hat Hände, die gut fassen können. Diese Hände würden niemanden fallen lassen. Egal, wie schwer und wie hässlich man sich fühlen würde.
Möchte wissen, wo er jetzt steckt. Ist weggerannt, wie ein kleines Schulmädchen.

Die zweite Nacht hab ich gewartet, bis er eingeschlafen war. Dann hab ich mich aus seiner noch schwitzenden Körperfalle befreit. An der Bar hab ich dem Pianoplayer noch bis zum Morgengrauen zugehört. Ich roch immer noch nach Sex. Irgendwann bin ich zurück in unsere Kajüte. Er lag da und schnarchte, und bevor ich genau verstand, was ich tat, hatte ich mich freiwillig in die gleiche Falle gelegt, die mir vorher die Luft geraubt hatte.
Schwäche oder Müdigkeit. Was sonst?

Vorgeworfen hat er mir, ich hätte, völlig ohne ersichtlichen Grund, in den vergangenen zwei Tagen einfach aufgehört, ihn zu lieben. Ob ich es vergessen hätte. Wütend hatte er geklungen. „Was denn sonst?!“ Wütend. „Oder willst Du mir jetzt irgendwas erzählen von Platzangst? Freiheitswahn? Beziehungsunfähigkeit?“ Wütend.
Hab ihn ausgelacht. Angst? Ich?? Niemals! Unfähigkeit? Pah, natürlich nicht!
„Laß das.“ Hat er gesagt. „Dafür bist du zu alt.“
Hab mir dann eine Zigarette angezündet, mein Haar nach hinten geworfen und ihn weiter ausgelacht bis er noch wütender als vorher aus der Kajüte gerannt ist.

In der letzten halben Stunde hab ich mir diese Fragen immer und immer wieder gestellt.
Kann man denn wirklich verlernen, zu lieben? Aber, darum geht es ja schließlich auch gar nicht wirklich! Es geht hier um’s Prinzip. Wenn ich nicht will, dass mir jemand so nah kommt, dann will ich es eben nicht. Jeanette hätte das verstanden. Auch auf diesem schwimmenden, limitierten Raumkontingent wären wir beiden uns niemals zu nah gekommen!

Verdammt, brauche ein Taschentuch. Hab wohl was ins Auge bekommen.
Noch eine Stunde. Sollte meine Tasche langsam packen. Hm, hab wohl vorhin vergessen, die Kajütentür abzuschließen.

Da steht er. Blickt durch das Bullauge auf’s Meer hinaus. In mir fühle ich ein kurzes aber heftiges Gewitter, und während ich noch die Worte meiner Großmutter im Ohr habe, „ein Gewitter reinigt die Luft, mein Kind“, weiß ich, was zu tun ist.
Ich laufe zu den wärmsten Augen, die ich je gesehen habe, laufe als einsamste Hälfte der Welt auf die offensten Arme, die mir je eine Falle gestellt haben und vergrabe mich. Vergrabe mich in mir selbst. Vergrabe mich in uns. Ein langsamer Kuss auf die Stirn. Ein langsamer Kuss auf jedes meiner Augen, und auf einmal wusste ich es wirklich nicht mehr: wie hatte ich es nur die ganze Zeit geschafft, diese Unvollständigkeit zu ertragen?
Ich konnte es kaum glauben, aber sie war weg. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich, wie es sich anfühlte, ein Teil von einem Ganzen zu sein und erst durch ein bestimmtes Teil zu einem Ganzen zu werden.
Ich hatte es nicht verlernt. Ich erkannte das Gefühl, dass sich in meiner Brust ausbreitete und wehrte mich nicht dagegen, als es für mich unbekannte Tiefen einnahm.

In diesem Moment erreichen wir den Hafen.