„IM MORGENGRAUEN, ALS DIE VON OSTEN AUFSTEIGENDE HELLIGKEIT, GANZ LANGSAM BEGANN, DIE BIS DAHIN UNDURCHDRINGLICHE DUNKELHEIT AUFZUBRECHEN....“
Angewidert schmiss sie das Buch vor sich über die Tischplatte. „Einen Scheißdreck interessiert es mich, was dann passiert!“
Wann würde er endlich verstehen, dass sie solche Schnulzen nicht leiden konnte?
Wann würde er auch nur irgendetwas verstehen?!Ihre Gedanken endlich auch nur im Ansatz zur Kenntnis nehmen? Wann würde er sie als weibliches Wesen wahrnehmen? Wann?
Keine Frau träumte von derartigem Kitsch, wie er dort auf die geduldig ausharrenden Seiten gepresst war! Schwachsinn!
Aber alle träumten sie von Geist, Verstand. Eine Tragik, die Männer nie verstehen würden.
Er war so erbärmlich.
Sein unterforderdes Hirn begnügte sich, den Unterschied zwischen Pizza und Piazza nicht zu vergessen. Jedoch schon bei der simplen Frage nach einer stupiden Sportschuh-Marke, die sich im Glanz der namensgebenden griechischen Göttin des Sieges sonnen durfte, schien sich jede einzelne Synapse seines absterbenden Gehirns, heroisch zu sträuben, auch nur im Entferntesten daran zu denken, dass vielleicht nicht Adidas, sondern Nike gemeint sein könnte.
Wie war er eigentlich gerade auf dieses Buch gekommen?! Hatte er seinen neuerlichen Versuch, ein gewisses kulturelles Grundrauschen in sein Wesen einzubauen, etwa von der Farbwahl des Einbandes ausgehend gestartet?
‚Wenn ja’, so fragte sie sich: ‚hatte diese pelzartige spielplatzgrüne Hülle ihn so in den Bann gezogen, dass die neonfarbigen gelben Kringel - welche sie an einen Stein erinnerten, der in einem See seine Kreise zog - leichtes Spiel hatten, in sein Kleinhirn vorzudringen, um ihn dort seines zähen Geschmacks und dem verkommenen Rest eigenen Entscheidungskraft vollends zu berauben?’
Glaubten Männer wirklich, Frauen mögen Bücher, die sich schon auf den ersten vier Zeilen als solch unverschämter Kitsch herausstellten, dass selbst das zitternde Liebesspiel von Sissi und Franz als Höchstleistung des Kafkaesken in schillerndem Glanz erschienen?
Mit einem müden Ton ersterbender Selbstverteidigung knallte das Buch gegen ihr halbvolles Weinglas.
Immer noch zornig stand sie auf und ging um den riesigen Küchentisch.
Die Küche strahlte in eisigem Weiß. Zusammen mit der kirschroten Oberfläche dieses Tisches, welche an einen sturmverhangenen Sonnenuntergang hinter den Klippen von Guernsey erinnerte, war dieser riesige Raum an Eleganz und Klarheit nicht zu übertreffen.
„Wenigstens das hast du hinbekommen. Du Narr.“
In diesem protzigen Überbleibsel altmonarchischer Baukunst war dies immer ihr Lieblingsraum gewesen. Hier, irgendwo am Ende des Nichts, wo aufkriechende Kälte von jedem Besucher sofort Besitz ergriff, wenn er auch nur einen Fuß über die Eingangsschwelle setzte, und Wahnsinn nur einen Schritt entfernt war.
Sie nahm ihr Glas und ging auf die Terrasse. Sein ungläubiger Blick folgte ihr tonlos.
„Was hätte ich denn tun sollen?“ schalt sie ihn. „ Wie hätte es weiter gehen sollen? Kannst Du mir das sagen?“, schrie sie. Ihre Hand schnellte in die Höhe als wolle sie einem Vogel den Kopf herunterschlagen. Erschrocken und kraflos ließ sie den Arm wieder sinken. Selbst die kalte Nachtluft vermochte ihr Gesicht nicht zu kühlen.
Ihr unsteter Blick fiel wieder auf ihre Hand. Warum hörten diese Finger nicht endlich auf zu zittern?
Sie leerte das Glas in einem Zug und ging zurück in die Küche.
Seine Augen erwarteten sie bereits. Genau wie sein Mund - ohne Regung; ohne Antwort auf ihre Fragen.
Sie füllte ihr Glas erneut und seufzte leise beim ersten Tropfen, der ihre Kehle hinunter glitt. Der beerige Geschmack des Weines stimmte sie versöhnlich und sie begann, erschöpft zu lächeln. „Die letzte Flasche für mich. Schade.“
Ihr Lächeln blieb während sie zu ihm ging. Sie ließ sich neben ihm auf der sündhaft teuren geschmacklosen Ledercouch nieder.
Zärtlich raunte sie ihm in sein Ohr: „Du weißt, daß ich dich einmal habe dich geliebt habe. In einem anderen Leben.“ Ihre Augenlider senkten sich und plötzlich zischte sie leise hervor: „Aber Du, Du konntest mir mein Leben nicht lassen. Hast es verhöckert, wie bei einem Wettrennen.“ Er starrte sie nur an.
Sie hatte verstanden.
Kälte kroch ihren Rücken nach oben.
„Uns bleibt nicht mehr viel Zeit“, sagte sie ruhig und wandte sich von ihm ab. „Ich höre sie kommen.“
‚Komisch, wie langsam in solchen Momenten die Zeit vergeht.’ Ihr kam es vor als wären seit ihrem Anruf bereits Stunden vergangen.
„Sie haben mich noch nicht mal gefragt, warum. Haben nur gesagt, sie wären gleich da und ich solle bei dir bleiben.“ Sie musste grinsen. Als würde sie jetzt noch weg gehen. Lächerlich. Die Würfel waren gefallen. Sie würde nicht weglaufen. Nie wieder.
Sie hatte seine Augen immer gemocht. Doch heute, jetzt, hier... Sie waren leer, starr, farblos. Tot.
Er machte sie wütend. Ruckartig stand sie auf. „Interessiert denn Keinen, warum?! Zum Teufel!“
Diese Augen! Sie sollten aufhören, sie anzustarren!
Ihre Beine trieben sie zum Fenster, während sie ihre fremde Stimme, die aus ihrem Mund zu kommen schien, sagen hörte: „Frage mich, wer diese Schweinerei hier wegmachen wird.“
Sie küsste seine Stirn und er glaubte ihr, dass sein Verhalten für sie kein anderes Tun möglich gemacht hatte. Sie hatte überhaupt keine andere Chance gehabt.
Als sie mit einem kräftigen Ruck das riesige Küchenbeil aus der roten und unförmigen Kuhle, die vormals sein Unterleib gewesen sein musste, herauszog, glaubte sie, ein letztes Mal ein kämpfendes Glimmen in seinen Augen zu sehen. Dann war es verschwunden.
Stattdessen begann ihr persönlicher Stummfilm: Fremde Menschen rannten ihr schreiend entgegen, rissen ihr das Beil aus der Hand und zogen sie harsch von ihm weg.
‚Als ob ich mit dem Beil jemanden verletzen könnte. Diese Narren.’
Im Morgengrauen, in einem kleinen, grauen Zimmer mit hölzernen Stühlen und ohne Klimaanlage hörte sie die Frage, auf die sie so gewartet hatte: „Warum haben Sie das getan? Warum haben Sie Ihren Mann erschlagen?“
Sie lächelte ein letztes Mal das Lächeln einer freien Seele. „Dumm. Er war dumm.“