Sonntag, 12. November 2006
Pont Rosé

Da stand ich und wartete auf sie. An unserer Brücke, die über den kleinen Bach geht, wo wir schon als Kinder kleine Staudämme gebaut, wo wir uns das erste Mal als Jugendliche geküsst und wo ich ihr das letzte Mal fast das Herz gebrochen hatte.
Ich konnte meinen Atem in der Luft sehen. Sie hatte mir einmal im Streit gesagt, es sei alles nur heißer Dampf, was aus meinem Mund käme, ich würde es nicht ernst meinen. Damals hatte sie Recht behalten. Doch sie hatte mich weiter geliebt, als seien meine Fehler nicht das große Schlimme an mir.

Zwei Jahre hatte ich sie jetzt schon nicht mehr gesehen. Als der Brief mit den zarten Roséwasserzeichen in meinem Postkasten lag, hatte ich gar nicht glauben wollen, dass sie mir geschrieben hatte. Von einem Freund erfuhr ich, dass sie wieder in der Stadt sei und nach mir gefragt habe. Auch das wollte ich erst gar nicht glauben. Alles schien so arrangiert, so unwirklich. Sie? Nach mir gefragt? Nach allem, was zwischen uns geschehen war? Das konnte eigentlich nicht sein. Aber wenn mir ein Mensch auf der Welt meine Fehler verzieh, dann war sie es.

Zwischen den kahlen Eichenästen sah ich sie. Sie trug einen erdbraunen, knielangen Mantel, der ihre Taille betonte. Ihr schwarzes Haar hatte sie zu einem Dutt hochgesteckt, es machte sie streng, doch das tat ihrer Schönheit nichts. Sie eilte zu mir, mir entgegen, wie ein kleines Kind zu seinem Großvater läuft, den es schon lange nicht mehr gesehen hatte. Sie lächelte sanft und nahm mich in den Arm.

Ich erkannte den zarten Duft ihres Parfums wieder. Es war genau der Duft, mit dem sie mich verabschiedet hatte, damals. Sie strich mir durch das Haar, musste sich dabei auf die Zehenspitzen stellen, um mich zu erreichen.

„Du bist grau geworden“, sagte sie mit einem Lächeln im Gesicht und schaute mich mit wunderschönen Augen an.
„Und du bist immer noch so schön wie früher“, flüsterte ich aus Angst, meine Stimme könnte vor Aufregung versagen. Ich drückte sie fest an mich und schaute ihr in die Seele. Sie hatte sich verändert, ich wusste nicht mehr, was ich sah, aber es war nicht die Frau, die mich verlassen hatte. Wie konnte sie es auch sein, nach solch langer Zeit? Kein Mensch bleibt derselbe über so lange Zeit. Ich konnte es auch nicht von meiner großen Liebe erwarten.

Die Trauerweiden warfen ihre Äste in den kleinen Bach. Ich erinnerte mich, wie ich sie geliebt hatte, unter einem dieser Bäume, wie er uns beschützt hatte als wir wie Adam und Eva dort lagen und glaubten, wir könnten jetzt die einzigen Menschen in der Welt sein. Eine kleine Träne sammelte sich in meinem Augenwinkel. Ich wollte sie zurückhalten, aber da war es schon zu spät.

„Du darfst jetzt nicht weinen“, flüsterte sie und nahm meine Hand. Sie war weich und warm, aber sie hielt mich fester als erwartet. Eine zweite Träne fand ihren Weg auf meine Wange. „Ich hätte dich nicht um dieses Treffen bitten sollen“, sagte sie und drehte sich zum Gehen um.
„Warte bitte“, rief ich lauter als gewollt. Sie drehte sich um und schaute mich traurig an. „Geh noch nicht, ich habe dir noch soviel zu sagen. Bitte.“
„Ich muss. Mein Mann wartet auf mich.“
„Wie geht es ihr?“
„Sie wird groß. Sie hat deine Augen und dein Temperament“, sagte sie und schaute zu Boden.

Ich hatte meine Tochter noch nie gesehen. Nur ein kleines Foto war beigelegt gewesen, in dem Brief. Ich hatte lesen dürfen, dass sie eine Begabung für die Musik entwickelte, dass sie bereits jetzt in jungen Jahren eine Musikschule besuchen sollte, um ihr Talent zu fördern. Die Tinte war unter meiner Rührung immer mehr zu einem kleinen, blauen See verflossen.

„Ich liebe dich“, kam es zitternd aus meinem Herzen und ganz unerwartet, auch für mich.
Sie schien sichtlich ergriffen durch meine Worte. Ich beobachtete den heißen Atemdampf, der aus meinen Lungen entwich und fokussierte ihn, so dass sie im Hintergrund verschwamm wie eine Weichzeichnung.
„Ich gehe jetzt“, sagte sie leise und wischte sich eine Träne aus den dezent geschminkten Augen. „Ich werde deiner Tochter sagen, dass du sie liebst.“
„Und sie wird deinem Mann in den Arm laufen und ihm einen Kuss geben und sagen, dass sie ihn auch liebt“, erwiderte ich mit ungewollter Verachtung. „Und du wirst zuschauen und nichts sagen können.“
„Ja, so wird es sein“, sagte sie mit fester Stimme und ging.

Ich blickte ihr noch eine Minute hinterher, sah zu, wie sie in einen grauen Wagen stieg und davonfuhr. Zu ihrem Mann und ihrer Tochter, die ich damals nicht haben wollte. Ich schaute auf den kleinen Bach und wünschte mich in die alte Zeit zurück, um meine Fehler zu korrigieren. Sie hatte sie mir vielleicht verziehen, ich mir jedoch nie.