Montag, 27. April 2009
Suchen

Sie suchten den Sonnenhonig als ihnen nichts anderes mehr einfiel und alles ausgesprochen war, was aussprechbar erschien. Sie suchten nach ihm, obwohl sie nicht an ihn glaubten, nicht einmal wussten, wonach genau sie suchen sollten. Er solle Wunden heilen, hieß es, die unter dem Schorf von langen Jahren für Kopf und Herz unsichtbar in die Tiefe eitern. Er solle glätten, was sich in harschen Graten wie ein Grenzgebirge auftürmt. Er solle den Blick schärfen für alles, was die Augen verloren haben. Und er solle Platz für Erinnerungen schaffen, die unter meterhohem Gerümpel liegen. Sie wollten, mussten ihn finden, denn ohne ihn wussten sie nicht mehr weiter.

Sie zogen durch die Lande im Norden, stapften durch dunkle Wälder, wanderten über leuchtendgrüne Wiesen, lauschten des nachts den Rufen der Käuzchen und folgten am Tage dem Taumel bunter Insekten, aber sie fanden nichts. Niemand dort hatte jemals vom Sonnenhonig und seiner Magie gehört. Im Osten ließen sie Gesichter und Hände vom ersten sanften Licht des Morgens bescheinen und folgten der Spur der hellen Scheibe am Himmel bis sie am Abend in der Dunkelheit über die eigenen Füße fielen, aber auch hier hatte niemand einen Ratschlag und sie fanden nichts. Im Westen sammelten sie im letzten Licht des Tages trockene Zweige und betrachteten nächtelang die zuckenden Flammen ihres kleinen Lagerfeuers. Müde waren sie und konnten doch nicht schlafen, denn auch im Westen wusste niemand etwas und sie fanden nichts.

Als sie aus dem Süden heimkehrten, mit sonnengebräunten Gesichtern, die Schuhe staubig, die Kleidung zerschließen und die Hände leer, denn auch im Süden fanden sie nichts, setzten sie sich schweigend auf die Stufen vor ihrem Haus.
"Ich habe geahnt, dass es so kommen würde."
  "Ja, ich auch. Ich habe auch nicht daran geglaubt."
"Und doch bist du mitgekommen."
  "Ja, das bin ich."
"Und doch haben wir uns an den Händen gehalten."
  "Ja, das haben wir."

Hinter den Bäumen beginnt lautlos eine schmale Mondsichel ihre Wanderung.

"Wenn du nicht daran geglaubt hast, warum bist du dann mitgekommen?"
  "Ich wollte dich nicht alleine gehen lassen."
"Aus Sorge, mir könnte etwas passieren?"
  "Aus Sorge, du könntest dich verlaufen und den Weg nach Hause nicht mehr finden."
"Hättest du mich gesucht, wäre mir das passiert?"
  "Ja, dann hätte ich dich gesucht."
"In jeder Himmelsrichtung?"
  "Ja, in allen Himmelsrichtungen."
"Als würdest du nach dem Sonnenhonig suchen?"
  "Ja, so als würde ich den Sonnenhonig suchen."

Im Gebüsch raschelt ein unsichtbares Tier.

"Es ist gut, dass wir nichts gefunden haben."
  "Zum Glück haben wir nichts gefunden."
"Wer weiß, was passiert wäre, hätten wir etwas gefunden."
  "Ja, wer weiß, was dann jetzt wäre."

"Was sollen wir jetzt tun?"
  "Ein Tee wäre jetzt ganz schön."
"Ich decke den Tisch."

In der Ferne bellt ein Hund, ein anderer antwortet.