Freitag, 18. Januar 2008
Esperance

"Doch angesichts dieses gefallenen Vogels ahnte ich bloß, ahnte ich bloß, ahnte ich ... ich bloß ... bloß ..." Sie begann wie eine aufgezogene Puppe zu plappern, ich schlug ihr einmal auf den Rücken, sie richtete sich straff auf, klimperte mich dankbar mit ihren kleinen, leicht schielenden Augen an und räusperte verlegen ein "Sorry, betrunken" aus ihren dunkelrot geschminkten Lippen. Ich saß neben ihr am Tresen eines Hafenbistros in einem Kaff an der südaustralischen Küste, das den Namen der Fregatte "L'Espérance" trug, die der Vizeadmiral Joseph Bruny d’Entrecasteaux durch diese Gestade gesteuert hatte, 1791 beauftragt von der französischen Nationalversammlung auf der Suche nach dem berühmten und bereits seit einigen Jahren vermissten Weltumsegler Jean-François de La Pérouse. Mich hatte meine Zeitung "The Mercury" hierher geschickt, um einem mysteriösen Ereignis auf die Spur zu kommen, das den Namen Esperance vor kurzem durch die Weltpresse gescheucht hatte. Die Bar lag am Hafen, direkt am Anleger für Ausflugsboote, und war angeblich ein Anziehungspunkt für Touristen, die hier abends abhingen, wenn die Boote, mit denen sie Angelausflüge oder Fahrten zu den der Küste vorgelagerten 100 Inseln des Archipelago of the Recherche gemacht hatten, sie wieder an Land entlassen hatten; aber außer uns beiden gab es hier heute Abend keine Gäste. Die Lady neben mir, Dr. Lucy Miller, eine etwas mollige Mittvierzigerin, war angeblich eine Halbjapanerin, wie sie mir nach dem xten Glas Gin Tonic anvertraut hatte, man sah ihr diese Herkunft allerdings schon aufgrund ihrer offensichtlich echt hellblonden Haare nicht an. Sie trug Jeans und ein dunkelgrünes, kariertes Hemd, um den Hals eine bunte indische Kette. Wir hatten uns vor ein paar Stunden hier verabredet und inzwischen hatte ich ein wenig und fast zu tief in die Trübsal einer ursprünglich sehr ambitionierten Wissenschaftlerin schauen dürfen, die in Esperance nicht nur die einzige Veterinärmedizinerin war, sondern auch als eine der wenigen Akademikerinnen versauerte, und das in gewisser Hinsicht alleinstehend, denn sie war zwar verheiratet, aber ihr Mann, ein Bergbauingenieur, hatte seit mehr als zwei Jahren nicht mehr mit ihr geschlafen. Das wusste nun auch der dicke Barmann, denn der hatte dem, was sie mir leicht lallend und laut gestand, mit gespitzten Ohren zugehört, aber das schien ihr wohl egal zu sein. Sie fühlte sich über alle Maßen einsam. Plötzlich legte sie ihren Kopf auf meine Schulter und begann leise zu weinen. Das hatte kaum etwas mit dem Grund zu tun, aus dem ich mich mit Dr. Lucy Miller letzte Woche telefonisch verabredet hatte und mich hier in diesem Kaff aufhielt. Und sie wusste leider auch nicht mehr als das, was ich bereits in Zeitungsartikeln gelesen hatte: Am 7. Dezember letzten Jahres regnete es plötzlich Vögel. Ein kleines Mädchen hatte ihr am Morgen eine tote Krähe gebracht, was noch nicht weiter erstaunlich war. Aber als sie ihre Tierpraxis zur Mittagszeit verließ, fand sie auf dem Gehweg eine leblose Taube und ein paar hundert Meter weiter einen toten Falken, dann einen toten Honigesser. Schließlich stellte sich heraus, dass innerhalb von ein paar Stunden tausende Vögel aus dem Himmel über Esperance gefallen waren. Der vertraute Vogelgesang war mit einem Schlag vollständig aus dem Städtchen verschwunden. Eine Erklärung gab es nicht, dafür eine mittelschwere Panik unter der Bevölkerung. Der Bürgermeister bedrängte Lucy, irgendeine Vermutung zu äußern, aber nachdem sie mehrere Vögel seziert hatte, war nur klar, dass die Vögel gesund gewesen waren, so dass der plötzliche Tod mehr als rätselhaft schien: er war unheimlich. "Doch angesichts dieses gefallenen Vogels ahnte ich bloß, ahnte ich bloß, ahnte ich ich bloß bloß..." Wie gesagt, ich klopfte ihr daraufhin auf den Rücken. Und auch wenn sie durch das Schicksal der armen Tiere psychisch irgendwie beansprucht schien, so hatte ich doch das deutliche Gefühl, dass sie mehr unter ihrer Einsamkeit als unter dem mysteriösen Vogelsterben litt. So kam sie mir wie einer dieser gefallenen Vögel vor, wie aus dem Himmel vergangener Träume tot in das windige Nichts eines südaustralischen Küstenstädtchens gestürzt. Ich schaute nach dem Barkeeper. "Noch ein Bier", sagte ich. Er nickte fragend nach der Lady. Ich schüttelte den Kopf. "Wenn Sie mehr über die Vogelgeschichte wissen wollen," brummte er mit breitem Akzent, "dann schauen Sie mal nach der Magellan Mine." Und stellte mir die Bierflasche vor die Nase. "Da geht's nicht mit rechten Dingen zu, das sag ich Ihnen." Ich wandte mich wieder Lucy zu. "Was ahnten Sie?" fragte ich sie. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und blickte mich verständnislos an. "Was? Was meinen Sie?" – "Sie sagten eben, dass Sie so eine Ahnung hatten." – "Hihi", sie kicherte plötzlich. "Ja, aber fragen Sie mich nicht, was für eine, hihi." Und dann schlang sie einen Arm um mich und wollte mich küssen. Keine Frage, ich verschwendete meine Zeit mit dieser Frau, es war spät, ich war müde. "Misses Miller, vielen Dank für das Gespräch, aber ich denke, ich muss ins Bett." – "Ich komme mit!" bestimmte sie. Der Barmann grinste unverschämt. "Glauben Sie dem Barmann", quäkte plötzlich etwas schräg hinter mir auf Kniehöhe. Ich drehte mich um. Auf dem Boden stand ein Pinguin. Er schaute mich von der Seite an. "Was glotzen Sie so blöd, noch nie einen sprechenden Pinguin gesehen?" Offen gestanden, es war mein erster sprechender Pinguin. Ich wusste zwar, dass es so etwas hier in der Gegend geben sollte, aber es ist eine Sache, ob man von etwas liest, und eine andere, ob man es zum ersten Mal leibhaftig vor sich sieht. "Entschuldigung", sagte ich, "ich wollte Sie nicht kränken." – "Schon gut", quäkte er. "Heben Sie mich mal bitte auf den Hocker!" Ich stieg von meinem Stuhl und hob das Kerlchen hoch. "Hi Tom!" begrüßte er den Barmann und schaute dann um mich herum auf Lucy. "Hi Misses Miller, wie geht's?" – "Hi Mike, danke gut, und selbst? Nach der letzten Wurmkur wollten Sie mir" – sie bekam einen kurzen Schluckauf – "mir doch noch mal einen Besuch abstatten." - "Gewiss, aber da kam dieser Vogelabsturz dazwischen, ich bin seither das erste Mal wieder in Esperance. Und, wenn mich nicht alles täuscht, der letzte Vogel hier. Gefährliches Pflaster für Vögel. Und ich weiß auch, wem wir das zu verdanken haben." Er hob den Schnabel und hatte dabei, soweit ich das beurteilen konnte, einen sehr wichtigen Gesichtsausdruck. "Hey, Tom, lass mal einen Bird of Paradise rüberfliegen." Tom begann den Cocktail zu mixen. "Sind Sie Journalist?" Ich bejahte. "Sie sind hier, weil Sie wissen wollen, was das mit den toten Vögeln auf sich hat?" Ich nickte. "Ganz einfach, Mister Miller ist dafür verantwortlich, da gibt es keinen Zweifel." Ich schaute Misses Miller an. Die blickte nun verlegen nach unten. "Ihr Mann?" fragte ich erstaunt. "Ihr Mann!" krächzte Mike. "Seines Zeichens Chef der Magellan Mine. Er ordnete an, dass am Vormittag des 7. Dezember mehrere Ladungen Bleipulver gegen die Vorschriften auf offenen Lkws, das heißt ohne Container, von der Mine zum Hafen gekarrt wurde. Am Mittag fielen meine Kollegen vom Himmel. Na? Zusammenhang? Alles klar, oder?" Der Barkeeper war mit dem Mixen des Drinks fertig, schüttete das Ganze in eine kleine Schale und stellte sie vor Mike ab. "Danke, Tom." – "Wussten Sie was davon, Lucy?" fragte ich. "Vogeldreck!" rief sie. "Die Vögel haben doch alle einen Vogel, und der hier ganz besonders!" Sie zeigte mit lang ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung Mike, der ungerührt seinen Schnabel in das Schüsselchen steckte und genießerisch mit erhobenem Haupt den Cocktail durch die Kehle rinnen ließ. Ich: "Aber Sie deuteten doch vorher selbst ..." – "Papperlapapp!" schnauzte sie mich an, und nahm nun sichtbar körperlich Abstand von mir, indem sie demonstrativ den Oberkörper zurückwarf und sich anschließend über die Theke in Richtung des Vogels beugte. "Gar nichts deutete ich an! Mein Mann und seine Mine haben damit nichts zu tun, im Gegenteil, alles deutet darauf hin, dass die Vögel selbst schuld sind, sich selbst ins Verderben stürzten, ja, vielleicht stürzen wollten!" Der Pinguin stieß ein laut kreischendes Kichern hervor und begann wild mit den Flügeln zu schlagen. "Selbst schuld! Selbst schuld!" krächzte er munter und nippte noch mal am Schälchen. Dann schaute er konzentriert in unsere Richtung und fragte mit einem etwas tieferen Tonfall als eben: "Sagen Sie mal, Misses Miller, welches Motiv sollten wir Vögel denn für einen kollektiven Selbstmord haben? Depressionen wegen des Ozonlochs?" Ich war mir sicher, dass mir der Pinguin dabei spöttisch zuzwinkerte. Lucy begann sich ein wenig aufzurichten und lächelte überlegen: "Es ist doch allgemein bekannt, dass die Vögel ihre Fröhlichkeit nur vortäuschen. Dieses ganze Getriller und Gezwitscher ist reine Tarnung. Jeder Vogel ist eigentlich ein zutiefst trauriges Wesen, erschüttert und seelisch zerfressen vor Neid, weil sie zwar Zweibeiner sind wie wir, aber keine Arme und Hände haben, und zum Fliegen verdammt, zumindest wenn man kein Pinguin oder Strauß ist wie Sie, Mike!" Ich sah, wie der Pinguin plötzlich steif und starr wurde. Dann begann er einen heftigen Hustenanfall zu bekommen. Ich wusste nicht, was tun, er drohte vom Stuhl zu fallen. Lucy stand auf, ging um mich herum, und schlug mit der flachen Hand einmal kräftig auf den Rücken des armen Tieres. Und das war fatal: Durch den Schlag flog der Vogel nach vorne, schlug mit dem Kopf gegen die Tresenkante, sackte mit dem Körper vom Stuhl und knallte nach einem Salto mortale kopfüber auf den Boden. Er rührte sich nicht mehr. "Hey, Mike! Alles okay?" fragte Lucy und bückte sich zu dem leblos daliegenden Tier hinunter. Es schien nicht alles okay. Sie hob den Pinguin auf und legte ihn behutsam auf den Tresen neben das Schälchen mit dem Bird of Paradise. Ein Auge des Vogels schaute starr und trocken auf das Getränk. Und auf einmal war alles wirklich unglaublich still.