Montag, 8. September 2008


Die Zukunft liegt hinter uns.

„Kannst du mir mal die Schultern massieren, Wladi, fragte George mit einem zärtlichen Blick, ...“

Ob das schon der Tiefpunkt ist? Seit heute Morgen der Wecker ohne erkennbaren Grund seinen Dienst eingestellt hatte, war das nicht mehr sicher zu sagen.

„Wladi und George hatten sich nichts mehr zu sagen …“

Nein, es ging noch tiefer. Der Blick aus dem Fenster verspricht einem Herbsttag ohne Regen bei gut und gerne sieben oder acht Grad. Der Himmel ist graubraun bewölkt. Der jährliche Laubsturz macht seine Halbzeitpause. Die Felder vor der Stadt haben seit einem Monat Feierabend. Auf der vom Tau nassen Straße rutscht ein Mann auf einem Fahrrad seitlich nach rechts weg, das Vorderrad blockiert und dann liegt er auf dem Braungefleckten Boden. Er brüllt etwas Unverständliches in den Lärm der Straße und tritt nach dem ebenfalls liegenden Fahrrad. Die nächsten zehn Minuten wird er weiter Unverständliches brüllen, und den Fuß halten der das Rad bestrafen wollte. Aber das kommt erst noch. Im Moment reisst er vor Schmerz erschrocken die Augen auf.

„George sprach zu Wladi in einer kehligen Sprache, …“

Hätte ich eine Schreibmaschine, würde sich der Papierkorb nicht mit übel riechenden Papiertaschentüchern füllen, den verschwitzten Resten der letzten Nacht im Internet, sondern weiße Blättern voller verworfener Gedanken in schwarzen Buchstaben darin sammeln. Hätte ich eine Schreibmaschine, würde ich vorher darüber nachdenken, was ich tippe. Dann wäre mir Wladi und George egal. Ich habe aber keine. Ich muss wie jeder Knecht in einem Redaktionssystem das Zeichenzählwerk am laufen halten. Wie gerne hätte ich eine alte IBM aus weiß-lackiertem Aluguss. Mit ITC Courier 12 Punkt, rot-schwarzes Band vor einem Kopf voller Lettern gespannt.

„George erschoss Wladi, und der Rauch aus dem Revolver roch scharf nach …“

Wo ist der geblieben, der auf dem Weg zum Zenit seines Lebens dem Fluch Adams folgend im Schweiße seines Angesichts den Tag verbringt, um dann einsam an seiner Statue zu arbeiten, Nachts, wenn sie alle schlafen, wenn sogar die Nachtschwestern beim Portier anrufen, um eine menschliche Stimme zu hören. Wo ist der geblieben? Wo habe ich den verloren?

„Taumelnd kam Wladi vor George zum stehen und fleht diesen an, noch so einem Schlag zu bekommen.“

(Alles auswählen. Entfernen.) Das größte Argument gegen ein Buch ist eine Buchhandlung. Nimm nur ein Wort mit herein, oder einen Satz, und lasse den Berg vor Dir aufschaufeln, einen Berg aus Büchern die sich nur und ausschließlich um dieses Wort oder diesen Satz als Hauptthema dreht. Jeder Gedanke ist schon gedacht, jedes Wort schon an jedes andere gereiht, jeder Satz schon drei mal besser formuliert, mal feurig, mal nachdenklich, mal aufrüttelnd und mal erregend. Jeder Satz schon geschrieben. Jede Geschichte schon erzählt. Jedes Thema schon behandelt. Man sollte Buchhandlungen schließen aus Rücksicht auf junge Autoren, zumachen diese Tempel der Qual, diese überwältigende Zuschaustellung der Potenz der anderen und dieser Spiegel der eigenen Ohnmacht.

„Wladi schlug George nieder und verging sich an ihm. George wollte das so, ...“

Wer sind eigentlich diese beiden Figuren, Wladi und George? Was spielen sie für eine Rolle in meinem Leben? Was ist aus dem „Werk“ geworden, dem Ziel meines Studiums, der Säule meines Lebens als Schreibender? Selbst wenn ich die Diskette mit den ersten Fragmenten wieder finde, welches Gerät kann die noch lesen? Ich will an den Anfang zurück. Dem Tag nach meinem Diplom. Dem ersten Tag als Schreibender, dem Tag vor diesem Job, als es noch ich war, der in mir wohnte, und nicht eine Content-Delivery-Unit des Redaktionssystems.

Aus einer Sackgasse kommt nur wieder raus, wer sich umdreht. Ich gehe erst mal los und kaufe einen Wecker. Hätte ich doch Schreiner gelernt. Holz ist doch auch sehr schön. Die ersten beweglichen Lettern waren aus Holz …

September 2008  ... link