Da stand ich und wartete auf...
... den letzten Bus in dieser Nacht. Nach dem langen kopflosen Fußmarsch durch die Stadt taten mir die Füße weh und wenn ich nicht vollkommen pleite gewesen wäre, hätte ich mir ein Taxi kommen und mich bis direkt vor meine Haustüre fahren lassen. Meine Finger tasteten in meiner Jackentasche nach der winzigen Börse, in der sich nur noch ein paar Münzen befanden. Vor knapp zwei Stunden hätte ich mir drei Taxis leisten können und mit jedem einzelnen hätte ich eine Ehrenrunde um den Flugplatz drehen können, mindestens. Aber das war vor knapp zwei Stunden.
Ich hätte es wissen müssen, in dem Moment, in dem die Türe aufging und sie hereinkam, mit ihrem überheblichen Gewinnerlächeln und dem wiegenden Katzengang, und er mich von seinem Schoß schob. „Holst du uns was zu trinken, Süße?“, fragte er mich, rasch sein Glas in einem Zug leerend und mich an der Hüfte Richtung Theke schiebend. „Warum gehst du nicht selbst?“, fragte ich zurück, über seinen Kopf hinweg die theatralische Geste beobachtend, mit der sie ihr langes, blondes Haar zurückwarf. „Bitte, Süße.“, sagte er mit seinem niedlichen Hundeblick und ich ging - ich ging, weil er einer der wenigen Männer war, die diesen entwaffnenden Hundeblick in absoluter Perfektion beherrschten und weil ich ihrem hellen Lachen entkommen wollte, welches ihr vorauseilte wie ein Blitz dem Donner.
Es war voll in dem Tanzlokal, vor der Theke stand man bereits in zweiter Reihe an. Es dauerte ein Weilchen, bis ich meine Bestellung aufgegeben hatte und noch ein Weilchen, bis ich mich durch die Menge unruhig wimmelnder Leiber zurückgekämpft hatte. Der Tisch, an dem er gerade noch gesessen hatte - mit mir auf seinem Schoß, bis sie auftauchte - war leer. Ich stellte die Gläser ab und durchsuchte mit den Augen den dämmrig beleuchteten, verrauchten Raum. An der Wand, direkt neben dem Gang zu den Toiletten entdeckte ich ihn. Er stand mit dem Rücken zu mir, beide Arme lang ausgestreckt, die Handflächen gegen den rauhen Putz gepresst. Zwischen seinen Armen, den Kopf in den Nacken gelegt, zu ihm auflächelnd, stand sie.
„Da ist nichts mehr, Süße.“, hatte er vor zwei Wochen beteuert, als er von ihr kam und es nicht leugnen konnte, weil ich seinen Wagen vor ihrem Haus gesehen habe. „Ich habe ihr nur einen Höflichkeitsbesuch abgestattet, nach all den Jahren konnte ich ihr das nicht abschlagen. Wir haben geredet, sonst nichts. Ich kann doch nicht so tun, als würde ich sie nicht mehr kennen, Süße, nach so vielen Jahren Beziehung geht das einfach nicht.“ Ich hatte ihm geglaubt, weil ich ihm glauben wollte. Und weil er mich mit seinem niedlichen Hundeblick angeschaut hat. Und weil ich ihn liebte, liebte und verliebt war, verrückt nach ihm war. Eine blöde, verliebte, naive Gans, die glaubte, weil sie glauben wollte.
Ich starrte zu den beiden hinüber, beobachtete, wie sie die Hände an seine Hüften legte, dabei ihr Becken vorschob, sah zu, wie sie den Mund öffnete und lachte, so laut, dass ich glaubte, sie quer durch den Raum hören zu können. Dann richtete er sich auf und verschwand im Toilettengang. Sie schüttelte ihr Haar zurecht, stieß sich von der Wand ab, stand einen Moment nur da, dann bog sie ebenfalls um die Ecke in den Gang ab.
Wie gelähmt stand ich da, neben mir der Tisch mit den Gläsern, in denen die Drinks warm wurden. Mechanisch griff ich nach einem der Gläser, nippte daran, stellte es ab, griff erneut danach und leerte es in einem Zug. Erst zögerlich, dann immer entschlossener, schob ich mich, fuchtelnden Armen und sich windenden Leibern ausweichend, über die Tanzfläche. An der Wand, genau dort, wo er und sie gerade noch gestanden hatten, holte ich tief Luft, dann bog ich um die Ecke.
Mit zitternden Händen drückte ich die Tür zur Damentoilette auf. Vor den Spiegeln ordneten zwei junge Frauen Make-up und Frisur. Miteinander plaudernd gingen sie an mir vorbei, ohne mich auch nur einmal anzusehen. Die Tür fiel mit einem lauten Krachen hinter ihnen ins Schloß und sperrte die laute Musik aus. Leise ging ich auf die Kabinen zu, suchte nach dem Signalrot der verschlossenen Türe. Nichts. Tür für Tür ging ich ab, gab jeder einen Schubs. Nichts. Zitternd drehte ich mich einmal um die eigene Achse, begegnete dabei meinem Spiegelbild, erkannte das verzerrte, blasse Gesicht beinahe nicht, dann holte ich tief Luft und beim Ausatmen machte die fürchterliche Spannung endlich erleichterten Entspannung Platz.
Wieder in dem schmalen Gang, zögerte ich vor der Türe zur Herrentoilette. Oh nein, dachte ich, dieses Spielchen machst du nicht noch einmal. Und auf dem Herrenklo sind nur zwei Kabinen, da hätte man die beiden längst entdeckt. Nein, vergiss es! Ich trat von einem Fuß auf den anderen, unentschlossen, was ich nun tun sollte, als mir die Stahltüre am Ende des Ganges einfiel. Notaus- und Lieferanteneingang. Aber da ist doch immer abgeschlossen!
Die Klinke gab nach, die schwere Türe schwang in ihrem wuchtigen Rahmen nach außen. Ich hörte ihr Keuchen, noch bevor ich mich für eine Richtung entschlossen hatte. Ich tastete mich in der Dunkelheit an der Hauswand entlang, bis ich an die hüfthohe Mauer stieß, welche die Kellertreppe einfasste. Dort unten, auf der Treppe zum Keller, vermischte sich mir fremdes, helles Keuchen mit mir so vertrautem, dunklem Stöhnen. „Mach, mach, ohgott, ja, mach!“ Ihre Stimme, sonst so hell und klar, klang heiser, mühsam gepresst.
Im Umwenden hörte ich ihn die mir wohlbekannten Sätze sagen. Sätze, die sein nahendes Kommen ankündigen, sein sehr bald nahendes Kommen.
Blindlings quetschte ich mich durch die wogende Menge, zerrte meine Jacke von der Stuhllehne, wandte mich eilig Richtung Ausgang, besann mich dann plötzlich. Das zweite Glas fühlte sich warm und abgestanden an und sein hastig hinunter geschüttete Inhalt schmeckte genau so. Nur nichts verkommen lassen, dachte ich und musste plötzlich lachen. Nur nichts verkommen lassen, oder anbrennen, oder abstehen. Noch immer lachend trat ich auf die nächtliche Straße, umklammerte mit beiden Armen das Leuchtreklameschild und lachte, lachte, lachte, bis mir Tränen über die Wangen liefen.
Die Telefonkarte steckte schon im Schlitz des öffentlichen Fernsprechers, meine Finger waren bereit, die Nummer des Taxiunternehmens zu tippen, als mir auffiel, dass das Scheinfach meiner kleinen Börse viel zu flach war. Die Jacke hing über dem Stuhl, die ganze Zeit, auch als ich das Klo abgesucht habe, fuhr es mir durch den Kopf, es waren nur wenige Minuten, die ich weg war, nur wenige Minuten. Vollkommen sinnlos schob ich den Zeigefinger unter die lederne Abtrennung. Nichts. Gar nichts.
Die Münzen hatte man mir wenigstens gelassen, auch wenn ich sonst nur Verlust gemacht hatte. Für den Bus reichte es noch. Meine Füße, in hochhakigen Tanzschuhen steckend, schmerzten. Auf den Bus wartend, setzte ich mich auf die schmale Holzbank. Müdigkeit stieg in mir hoch. Ich begann zu frieren, kurz darauf zu schwitzen. Das Licht der rostmastigen Straßenlampe wurde heller und dunkler, änderte schließlich auch noch seine Farbe in gelb, orange, violett und wieder gelb. Ich lehnte den Kopf an die Wand des Wartehäuschens. Müde, so müde. Und mein Mund, so trocken. Der Boden unter meinen schmerzenden Füßen schwankte, die Holzbank gab plötzlich unter mir nach, ich fiel. Ich fiel und fiel, dann Schwärze, Lichtlosigkeit, Leere....
November 2006 ... link