Donnerstag, 25. Oktober 2007
Bapu

Eigentlich begann alles schon viel früher.
Vor einem Dreivierteljahrhundert wäre Nirad Singh, Bapu - Väterchen - wie er vom Pflegepersonal der geriatrischen Station liebevoll genannt wurde, vielleicht an der Seite Mahatma Gandhis marschiert um Indien von der unterdrückenden Kolonialmacht zu befreien, hätte er sich nicht, zu jener Zeit ein pharisäischer Halbstarker mit ausgeprägtem Ehrgeiz und nicht minder manifestierten beruflichen Ambitionen, vom Pfad jenes asketischen Satyagrahi abgewandt um in Boston juristisch zu praktizieren.

"Ich war ein Narr", sagte der Greis eines dunklen Novemberabends, nachdem ich die in deprmierend sterilem weiß gehaltenen Panel-Tracks zur Seite geschoben und damit den Fensterblick des bettlägerigen Alten auf einen ganz anderen Vorhang gelenkt hatte: ein Rollo aus Schneeflocken, das in einem endlosen Band langsam vom Himmel herabsank, ein Anblick der vielleicht auch mich dazu bewegt hätte, mein Leben, und die Ziele nach denen ich es ausgerichtet hatte, zu überdenken. "Sagen sie das nicht, Mister Singh - Bapu", verbesserte ich mich, "wir alle machen..."
"Doch, doch", unterbrach Bapu die sich anbahnende Plattitüde mit einem Anflug von Determinismus, einer Zurschaustellung von Willensstärke, die seinerzeit in anderer Gestalt selbst das Empire eingeschüchtert hatte, "ich war ein Narr. Ich habe alles falsch gemacht und es erst bemerkt, als es zu spät zur Umkehr war. Ich habe mich selbst verraten."
Ich wagte nicht, ihm zu widersprechen - nicht, dass ich dazu in der Lage gewesen wäre, meine üblichen Plattitüden zeigten bei Bapu anscheinend keine Wirkung - sondern heuchelte das gewöhnliche Interesse einer Pflegerin, die unterdessen, die üblichen Handgriffe pflegerischer Tätigkeit vollführend, ständig von einer Ecke des Krankenzimmers in die andere wechselte und sich dabei die Selbstvorwürfe der Sterbenden anhören musste: "Aha?"
Er holte tief Luft. Ich war noch nicht lange in diesem Beruf, doch ich wusste, was nun folgen würde: Ein Klagelied über die Geister, die jeden von uns ein Leben lang verfolgen; unsere Irrtümer und Enttäuschungen. Auch Bapu machte keine Ausnahme. Wie immer hörte ich nur mit halbem Ohr zu, gelegentlich brachte ich einen einsilbigen Kommentar ein um den Anschein von Interesse aufrecht zu erhalten, während meine Gedanken längst am Ende der Spätschicht angelangt waren und auf jungfräulich schneebedeckten Wegen meiner Badewanne entgegenschritten.
"Kennen sie Gandhi?" Bapus plötzliche Frage riss mich aus meinem imaginärem Schaumbad. "Mahatma Gandhi?", antwortete ich, noch etwas perplex, "Passiver Widerstand?" Bapus Antwort sollte mir einen Augenblick Zeit gewähren, meine Gedanken ins hier und jetzt zurückzurufen.
"Kein passiver Widerstand", berichtigte er mich ohne näher darauf einzugehen, "Satyagraha, uneingeschränkte Nächstenliebe." Die Art, in der er dieses Wort aussprach, schien es zu etwas noch Bedeutenderem zu machen, als das alte, so leicht gepredigte, doch so schwer angewandte, Gebot Jesu Christi.
Bapu seufzte tief und plötzlich bereute ich, ihm nicht zugehört zu haben, wenn auch eher aus Mitleid für einen bedrückten Todkranken als aus unversehens entflammtem Interesse an Gandhis Widerstandskonzept. Er schien niedergeschlagen und, im Gegensatz zu meiner üblichen Haltung, verspürte ich das Verlangen, ihm seine unnötig selbstaufgebürdete Last zu erleichtern. "Erzählen Sie mir etwas über sich, Bapu", bat ich ihn, meine Aufmerksamkeit immer noch auf meine Pflegeroutine gerichtet, "Sie stammen aus Indien, nicht?"
Bapus klagender Blick wanderte an die Decke. Er atmete ruhig und schien einen Moment in sich zu gehen. Dann holte er wiedereinmal tief Luft und begann mit einer jener Fragen, deren Antwort man nur selbst kennt und immer erst preisgibt, nachdem man den kurzen Moment der Überlegenheit genossen hat, den einem die Sprachlosigkeit seiner Zuhörer einbringt: "Wissen Sie, warum ich Indien damals verließ?" Er bemerkte mein leichtes Kopfschütteln nicht, denn längst starrte er wieder geistesabwesend aus dem Fenster, auf einen fernen Punkt in der Dunkelheit jenseits des Schneeflockenvorhangs.
Er begann, mir von seiner Jugend in Punjab zu erzählen. Dort wuchs er als einziger Sohn wohlhabender Sikh auf, später immatrikulierte er an der Punjab Universität und studierte vier Semester lang Rechtswissenschaften, ehe er durch die Abspaltung Pakistans und damit verbundene Unruhen gezwungen war, das Land zu verlassen und sein Studium in Europa zu beenden. Als diplomierter Jurist exmatrikulierte er bald darauf vom King's College in London, erhielt eine Anstellung in einer Kanzlei in Dover, durch die er, auf den verschlungenen Pfaden die das Leben für die Menschen bereithält, irgendwann nach Boston kam, wo er beschloss, sich niederzulassen und den amerikanischen Traum zu leben. Nun, am Ende dieses Traumes, wartete er hier im Massachusetts General Hospital auf den Tod, als dürrer Greis von zweiundneunzig Jahren, der sowohl seine Ehefrau als auch seine einzige Tochter überlebt hatte und dem nichts übrig blieb als die Erinnerung an jene Zeiten, in denen er sich als wichtiger Teil der Welt fühlte.
"Ich hätte dableiben sollen", beschloss er, "Gandhis Weg des Satyagrahi gehen, die Welt zu einem besseren Ort machen." Bapu kniff die Augen zusammen. "Doch damals fürchtete ich den Tod. Ich glaubte, das Leben zu wählen, doch ich wählte den längeren, den schleichenden Untergang. Ich lebte ein Leben ohne Sinn, nun sterbe ich einen Tod ohne Bedeutung." Er seufzte betrübt, und starrte wortlos in die Dunkelheit jenseits des Fensters.
Ich erledigte meine Aufgaben schweigend, nicht wissend, ob Bapu überhaupt noch Notiz von mir nahm. Bevor ich ging fragte ich ihn noch, ob er nun zu schlafen wünsche und wolle, dass ich das Licht ausschalte, doch er gab keine Antwort. Ich ließ die Finger vom Lichtschalter gleiten und versuchte, den Punkt jenseits des Schneevorhanges zu finden, von dem Bapu sich nicht abwenden konnte. Ich fand ihn nicht, so weit zurück in die Vergangenheit konnte ich nicht schauen.
"Was sehen sie, Bapu?", fragte ich ihn also, Anteilnahme spielend um meine Neugierde zu befriedigen und ihm endlich eine Reaktion zu entlocken.
Bapu wandte nur seinen Blick auf die Bettdecke und schüttelte den Kopf. "Dinge...", sagte er leise.
Enttäuscht wollte ich den Raum verlassen. Dann, ich stand noch im Türrahmen, sprach er es aus: "Ein Bild von Mahatma, es war die erste Fotografie an die ich mich erinnern kann. Sie hing im Haus meines Onkels, über der Tür." Sein Ton schien auf einmal voll von Begeisterung, trotzdem ließ ich mich nicht davon anstecken. "Onkel, fragte ich ihn, wer ist das? Er sieht aus wie ein unbedeutender Mann." Bapu versuchte zu lächeln, kniff dann aber die Augen zusammen als bräche er jeden Moment in Tränen aus und schüttelte den Kopf; plötzlich schien er mehr trübselig denn begeistert. "Ein unbedeutender, alter Mann."
Ein letztes Mal blickte er hinaus in die Dunkelheit. Ich nahm die Gelegenheit wahr und ging, jedoch nicht, ohne durch eine allgemeingültige Plattitüde die übliche Anteilnahme zu mimen: "Das wird schon wieder", sagte ich und verließ den Raum. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, hörte ich auf dem Flur sein leises Schluchzen, sporadisch unterbrochen durch gewimmerte Wortfetzen in einer Sprache, die ich nicht verstand. Für einen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, zurückzugehen und ihn zu trösten, den dürren alten Mann in den Arm zu nehmen und seine Selbstvorwürfe durch ehrliche Anteilnahme zu zerstreuen; doch ich verwarf diese Überlegungen und entschied mich, lieber jenen Verpflichtungen nachzukommen, die zu erfüllen ich eingestellt wurde, statt jenen, die ich mir immer wieder selbst aufbürdete.

Als ich das Krankenhaus verließ hatte es längst aufgehört zu schneien. Ich versuchte, nicht an Bapu zu denken, wie er durch das Dunkel einem Punkt in der Vergangenheit nachweinte, in der Hoffnung dort jene Erlösung zu finden, die ihm in der schwarz-oder-weiß Bewertung seines Lebens verwehrt blieb.
Ich fragte mich, wann ihm wohl die Vergänglichkeit dieses Traumes aufgefallen wäre. An der Seite Gandhis, am Tag der indischen Unabhängigkeit? Oder beim Ausbruch des anschließenden Völkermordes? Würde er am Ende aller noch so erfüllten Tage als asketischer Freiheitskämpfer dem Leben nachtrauern, das er nicht gehabt hatte? Einem Leben mit Frau, Tochter und einer Kanzlei in Boston?
Ja, schloss ich, an einem Abend wie diesem, wenn Erinnerungen an die Vergangenheit als reiner weißer Schnee die graue Wirklichkeit verhüllen, wie Bapus Traum von sich als Satyagrahi. Wie bei allen Menschen, die auf ihr Leben nur noch als eine Kette von richtig-oder-falsch Münzwürfen zurückblicken, deren Ausgang sie selbst bestimmt zu haben glauben.