Sonntag, 21. Oktober 2007
DEMUT & KONSEQUENZ

"Eigentlich begann alles schon viel früher," sagte sie leise.
"Ja," antwortete ich.
"Ich hätte es wissen müssen," fuhr sie fort. "Der Anfang war gar kein Anfang, nicht wahr?"
Ich betrachtete ihr Gesicht, die blasse Haut, die schöne Stirn, die schmale Nase, ihre Lippen. In einem anderen Leben hätte ich sie geküsst.
"Ja, es gab keinen Anfang. Denn dafür, aber auch für später fehlte mir Demut."
"Demut?" Sie lächelte. "Was ist Demut?"
"Demut ist das Gegenteil von Anmaßung."
"Du warst anmaßend? Aber..." - und wieder lächelte sie - "davon habe ich nichts gemerkt."
"Das ist gleichgültig, ich merkte es - und ich spüre es noch heute, da mir in letzter Zeit mehr als früher die Worte fehlen."
"Wie? Du sprichst rätselhaft - doch ich gebe zu, dass sich das mag, ja, ich mochte es von Anfang an."
"Es gab keinen Anfang."
"Ich vergaß."
"Ein Anfang hätte bedeutet, dass du Angst bekommen hättest. Angst vor mir. Angst vor der Demut, dem Fremden, dem Unverwandten, möglicherweise Abwendenden. So aber war auf die Distanz, durch die Ferne, im Traum und Raum des Abstrakten, dem Gefäß für deine Phantasie - war in dieser Welt das Gegebene das Gewünschte und dir damit alles vertraut."
"Du meinst, ich liebte mich zu täuschen?"
"Ja, das war deine Liebe."
"Und deine?"
"Meine Liebe? Ich weiß es nicht. Vielleicht war es keine - so wie kein Anfang."
"Das glaube ich nicht. Du hast mich geliebt. Du liebst mich noch immer."
"Ich liebe zwar noch immer, aber wer bist du? Ich weiß es nicht, also wie kann ich dich lieben?"
"Du hast mich erkannt. Aber du wolltest mich trotzdem lieben."
"Auch dir fehlt Demut," flüsterte ich, lächelte und sah, dass sie zurück lächelte. In einem anderen Leben hätte ich sie geküsst.
"Ja," sagte sie und schaute dabei auf ihre Hände, "und wohl deshalb liebe ich dich nicht."
"Ich weiß. Und es tut mir weh. Aber es tut mir auch leid. Um uns beide. Wir hätten einen Weg gefunden."
Wir schwiegen. Sie spielte mit ihren schlanken Fingern in ihren Haaren und drehte daraus lange, schwarze Fäden.
Sie brach das Schweigen: "Ich lege mich lieber zu meinen Ängsten, als dass ich versuche, ihnen zu begegnen."
"Das habe ich auch gesehen. Aber vielleicht ist es für eine Begegnung noch zu früh."
"Ja, es wird zu früh sein. Sehen wir uns wieder?"
"Nein."
"Aber, bedenke doch bitte, wenn der Anfang fehlt, wie soll es dann zu einem Ende kommen?"
"Durch Konsequenz." Ich glaubte nicht, dass dieses kurze, leise Schnarren meine Stimme war.
"Konsequenz," wiederholte sie sichtlich irritiert. "Aus was?"
"Aus deinem Schweigen."
"Ich schwieg?"
"Auch Plappern ist Schweigen. Auch Spielen ist Schweigen. Es ist Schweigen, wenn es keinen Anfang gibt. Schon viel früher begann also das Schweigen, siehst du, das Schweigen war der Anfang."
Ich sah, dass ihre Augen feucht wurden. Dann sagte sie traurig: "Das stimmt nicht, denn ich habe verstanden und auch du hast verstanden. Und ich hoffte, verträumt, verspielt und neugierig. Und nicht nur ich: du auch."
In einer anderen Welt hätte ich mich jetzt neben sie gesetzt, ohne Freiheit, ohne Zwang, und sie in den Arm genommen. Und dies immer wieder. Und dies ohne Ende.
In dieser Welt stand ich auf, schaute sie noch einmal an, lächelte freundlich und drehte mich um.