Eigentlich begann alles schon viel früher. Die Abgründe in ihm wurden mir zum ersten mal vor einem Jahr bewusst. Doch das verbindet. Die Abgründe, sie schlummern auch in mir, und er weckt sie. Und hatte ich jemals Zweifel an seiner uneingeschränkten Loyalität, so sind sie nun, mit jener Nacht, fortgewischt wie die Kaffeeränder auf meinem Schreibtisch.
Es ist, als habe unsere gesamte Verbindung seither auf jenen Abend abgezielt, der nun schon Geschichte ist:
Zwei Flaschen Rotwein, einige Heinekens, Ramazottis, Long Island Iceteas und Jägermeister später sitzen wir im Taxi auf dem Weg zu diesem Club, dessen Name alles andere erahnen lässt. Wir grinsen uns verschwörerisch an, die Augen hinter seiner Brille sind so voller Schalk und Zuneigung, ich genieße die Nacht. Es ist lau, eigentlich zu warm für diese Jahreszeit. Aber es passt, wie alles stimmig ist an diesem Abend. Wir sind wie zwei freudig erregte Teenager, auf ihrem Weg zum nächsten Abenteuer. Ungeplant. Sich treiben lassen. Voller Drang, ungehemmt und offen für alles. Wir wissen, was wir wollen.
Drinnen ist es dampfig und siffig, eine alte Fabrik, die Bässe dröhnen aus den Boxen. Wir steigen eine Gittertreppe hinauf, vor uns zuckende Leiber, die sich vom Klang der Musik treiben lassen. Es ist das erste mal seit Jahren, dass ich mich wieder in diese Gefilde wage, aber ich fühle mich sicher, mit ihm an meiner Seite.
Ich hole uns Wodka-Bull und Bier, wir wandern umher, von Raum zu Raum, mit unruhigen Augen, immer auf der Suche. Wir tanzen, versinken in den Tönen, bleiben aber getrieben. Irgendwann ist er plötzlich weg. Ich bin gnadenlos besoffen und fühle die Panik, die mich schon damals öfters dazu bewogen hat, mich stundenlang auf dem Klo einzusperren, in mir hinaufkriechen. Ruhig, ruhig. Er lässt dich nicht fallen.
Wenige Minuten später steht er vor mir. Er hat es. Wir steigen die Treppe hinunter. Als wir unten angelangt sind, drücke ich ihn an die Wand. Es ist wie ein Zwang. Er macht mir dermassen an, wie er da so steht, mit dem, was ich will in seinen feuchten Händen. Ich küsse ihn, drücke ihm meine Nägel in den Hals. "Tu das nicht, warum tust du das?" stöhnt er. "Ich kann nicht anders." Wir erliegen für Minuten der reinen Geilheit, wie zwei Tiere. Die Erinnerung ist schwarz. Ein letztes Licht, ich spüle die Pille mit Wodka-Bull hinunter. Die Zeit steht still. Hört auf. Ist weg. Was ist Zeit?
Es hämmert gegen die Klotür. Aber es ist mir egal. Wieder Schwärze, nichts als Schwärze. Wie bin ich hier her gekommen? Schwärze. Vor der Tür ruft jemand meinen Namen. Wie lange sitze ich hier? Es müssen Tage sein. Er ruft meinen Namen. Nichts. Weg. Weit weg. Wo? Ich habe keine Gedanken. Er steht über mir. Wir sind eingeschlossen im Klo. Er ruft meinen Namen, wieder und wieder. Er schüttelt mich. Schwärze. Ich sitze auf dem Klo, eigentlich eher in der Kloschüssel. "Ruf einen Krankenwagen". Das Reden strengt so an. Alles strengt an. Das reine Sein strengt an. Ist das Sterben? "Ruf einen Krankenwagen." Ich versuche, jede Silbe zu betonen. Die Worte formen sich wie aufgeschwemmte Pilze in meinem Mund. "Wir müssen hier raus", schreit er, "hörst, du, wir müssen hier raus, wir bekommen sonst riesen Probleme!" Er ist ausser sich. Er versucht, mich hochzuheben. Es geht nicht. Meine Beine gehören nicht mehr zu mir, nichts gehört mehr zu mir, ich zitter, ich bestehe nur noch aus Angst, Todesangst, und Zittern. "Ich habe Angst!" Ich falle wie ein nasser Sack mit dem Gesicht auf den Boden. Es hämmert gegen die Tür, die Leute rufen. Ich bin gleichgültig. Aber er ist da. Das ist gut.
Schwärze. Lange Schwärze.
Ich muss scheissen. Die Kontrolle über meinen Körper habe ich längst verloren. Er steht vor mir, verzweifelt. Die Scheisse stinkt nach Tod. "Spül!" schrei ich ihn an. "Bitte spül!" Er spült, während ich mir auf die Schuhe kotze. Kalter Schweiss läuft mir in Strömen über den Rücken, meine langen Haare sind klitschnass. Alles an mir ist klitschnass. Die Welt dreht sich seit Stunden. Es gibt kein Klopapier, ich kann nicht stehen, ich kann mich nicht anziehen, ich hänge an ihm, wie eine tote Puppe.
Er kniet sich vor mich, zieht mir meine verkotzte Jeans über meinen dreckigen Arsch, bringt alle Kraft auf, um mich am Stehen zu halten, doch ich breche runter, einfach runter. Sklave der Gravitation. Sitze in meiner eigenen Kotze. Ein erbärmliches verficktes Häufchen Elend.
Schwärze.
"Wir müssen raus!!!" "Ich kann nicht!" flüster ich, ich kann nicht. "Ich weiss." Schwärze. Lasst mich einfach von hier gehen.
Ich fühle, dass mich Hände tragen. Dann noch welche. Ich kann mich von oben sehen, sehe, wie ich aus dem Laden geschleppt werde wie eine verfickte Drogentante, vollgekotzt, ohne Bewusstsein. Dann eine kräftige Stimme aus dem Schwarz. "Was hat sie genommen?" Die Stimme ist nervös, aufgeregt. "Extasy", sagt er.
Eine Leiche. Aber es ist mir scheissegal. Andere Hände tragen mich nun, stärkere.
Tiefe Dunkelheit. Ich bin nicht mehr.
Ich atme in eine weisse Plastiktüte.
Schwärze.
Ich liege in seinem Bett, er stellt neben mich einen Mülleimer. Dann kam das Nichts.
Als ich aufwache, rieche ich meine eigene Kotze. Rieche die Scheisse an meiner Hose. Entgeistert schaue ich ihn an. "Was war das gestern?" "Du hast die Grätsche gemacht, und zwar ganz schön rapide." Ich bin fassungslos. Ungläubig. War das ich? Aber ich bin es, und ich bin eindeutig lebendig, auch wenn ich mich nicht fühle wie ein Mensch.
Es ist 3 Uhr nachmittags. Er steckt mich unter die Dusche, kocht mir Tee, gibt mir seine kuscheligsten Klamotten, reicht mir Brot und rekonstruiert die Nacht für mich. "Wie soll ich dir danken?" frage ich. "Doch nicht dafür", sagt er nur.
Wir vertreiben uns die Zeit mit "Dänische Delikatessen", "Die Verurteilten", und bei "Casino" schläft er wieder ein. "So instabil will ich dich nicht gehen lassen. Bleib noch einmal hier heute Nacht."
Ich möchte ihn so gerne umarmen, ihm so gerne zeigen, wieviel es mir bedeutet. Die Nacht hat mich endgültig an ihn gebunden. So bin ich gestrickt. Für mich fühlt sich an, als hätte er mein Leben gerettet, und sei es nur für diese eine Nacht. Auch wenn leise, bösartige Stimmen in mir wissen, dass er ebenso Auslöser meiner Gierde ist. Ohne ihn ist weder das eine noch das andere.
Mit großen Augen starre ich in die Dunkelheit, und lausche seinen ruhigen Atemzügen. Mein Herz klopft mir bis zum Hals, die Gedanken rasen. Das dunkle Tier in mir, es ist nicht gestorben. Es hat all die Jahre nur geschlafen. Wer sperrt es nun wieder ein?