Das kräftige Blau des Fußbodens unterstützte die kalte Atmosphäre in dem Raum und während die Menschen draußen unter der heißen Sommersonne stöhnten, herrschten hier im Inneren des markanten Gebäudes in der Innenstadt viel zu kühle Temperaturen. Nicht nur das nüchterne aber sehr erlesene Interieur des Büros verstärkte mein Frösteln; der inkompetente Pfuscher von Hausmeister hatte die Klimaanlage wohl immer noch nicht im Griff. Ich hätte ihn feuern sollen, als ich hier noch das Sagen hatte. Nun aber war ich in geheimer Mission zugegen und konnte zumindest in diesem Fall nichts mehr ändern.
Hier, an diesen Ort, wurde mir kurz etwas wehmütig ums Herz: Die Bezeichnungen, die mir meine emsigen Bienchen hinter vorgehaltener Hand hinterher zischten, hatte ich stets wahrgenommen und noch jetzt hallten sie in meinen Ohren. „Verfluchter Sklaventreiber“, „arrogantes Arschloch“ und „hinterlistiger Drecksack“ waren noch die schmeichelhaftesten Titulierungen und nie hatte ich darüber ein Wort verloren, meine Rache für derlei despektierliche Äußerungen ließ jedoch nie sehr lange auf sich warten. Als die feiste Schultz-Fernbeck aus dem Vertrieb mich hinterrücks einen „beschränkten Armleuchter“ zieh, wartete ich geduldig, bis ich wieder einmal von einem innerbetrieblichen Verhältnis Wind bekam und passte sie im Archiv ab, wo ich sie in innigster Umarmung und hochgeschobenem Rock mit dem schmierigen Moll aus dem Einkauf ertappte. So verflochten waren die beiden ineinander, dass sie mich und meine Leica, die auch bei diffusen Lichtverhältnissen ziemlich scharfe Fotos macht, nicht einmal bemerkten und scharf in anderem Sinn waren auch die Bilder, die der gehörnte Gatte von der Schultz-Fernbeck einige Tage später aus dem Postkasten zog.
Den „blauen Klaus“ aus dem Lager, der mich einen „behinderten Sesselpupser“ genannt hatte, weil ich ihm keinen Sonderurlaub zur Einschulung seines Sohnes gewährte, beschrieb ich der Polizei sehr detailliert, so dass sie ihn und seinen Focus nach der letzten Weihnachtsfeier recht zielstrebig aus dem Verkehr ziehen konnten. Ich meine, 2,8 Promille allein wären ja kein Beinbruch gewesen, aber bei einer Tupperschüssel mit „Rotem Afghanen“ unter dem Beifahrersitz wird selbst der kulanteste Richter grantig.
Freunde brauchte ich nicht. In meiner Position wären Freundschaften auch hinderlich gewesen. Ich arbeitete mit immensen Summen, doch während mein Vorgänger ständig die Zentrale wegen rückläufiger Auftragsbücher im Nacken hatte, konnte ich in den letzten 15 Jahren die Firma konsolidieren und so etwas funktioniert schließlich nicht mit der Kumpelmasche! Sentimentale Anwandlungen leistete ich mir nicht und die ständigen Einladungen zu blödsinnigen Personalführungsseminaren konnte ich wegen meines großen Erfolgs geflissentlich ignorieren. Mit harter Hand und unbestechlicher Zielstrebigkeit regierte ich die hiesige Dependance und hatte dabei nur eine einzige Vertraute: Irmgard, meine großbusige, persönliche Assistentin seit 12 Jahren, nach der sich Mossad und CIA die Hände geleckt hätten, so präzise, profund und erschöpfend waren die Informationen, die sie aus den Niederungen der schuftenden Basis in die teppichbelegte Chefetage übermittelte. Nicht nur im nachrichtendienstlichen Bereich verfügte sie über unnachahmliche Qualitäten; auch wenn mir der Sinn nach tiefgreifender Entspannung stand, musste ich lediglich kurz durchrufen und Irmgard stand gestiefelt und gespornt in genau diesem sachlich eingerichteten Büroraum, in dem ich mich nun befand und verschaffte mir nachhaltige Befriedigung.
Ich hatte Irmgard immer fair behandelt, so weit, wie mir das als verantwortlicher Entscheidungsträger möglich war. Ihren fortwährenden Bitten, ich möge mich von meiner Frau trennen und mich endgültig zu ihr zu bekennen, konnte ich aufgrund der Tatsache, dass Elisabeth Erbin eines stattlichen Vermögens ihres Vaters, des Keksmagnaten Hansen war, verständlicherweise nicht nachkommen. Das konnte sie wirklich nicht von mir verlangen, und als sie anfing, mich mit Spesenabrechnungen über gemeinsame Motivierungsaufenthalte in Gstaad unter Druck setzen zu wollen, zog ich die Notbremse und informierte die Konzernleitung über Irmgards fortwährende Diebstähle hochpreisigen Büromaterials, was ihre fristlose Kündigung zur unweigerlichen Folge hatte.
Heute war der vorletzte Tag im Mai und ich wusste, ihre Nachfolgerin würde übermorgen ihren Platz einnehmen und meinem Nachfolger sicher genauso treu ergeben sein, wie einst die großbusige Irmgard sich meinen Bedürfnissen gebeugt hatte. Aufgrund Irmgards überstürztem Auszug aus dem blau ausgelegten Vorzimmer musste ihre Nachfolgerin in zwei Tagen den hellblauen Schreibtisch leeren.
Ich zog nun sachte die linke, obere Schublade auf und deponierte dort unübersehbar zwei große Röhrchen mit Hydrogencyanid, landläufig auch Blausäure genannt.
Sind Sie schon einmal an Blausäurevergiftung zugrundegegangen? Nein? Na, dann lassen Sie sich gesagt sein, schön ist das nicht – im Gegenteil, man erstickt ziemlich scheußlich und im Handumdrehen; sogar der unterdurchschnittlich begabte und sturzbetrunkene Pathologenanfänger hatte den Grund meines Ablebens an den hellroten Totenflecken binnen Minuten erkannt. Die einst treue und loyale Irmgard wusste schließlich am besten, dass ich für gutes Marzipan sterben würde und hatte mir vor den Feiertagen breit lächelnd ein großes aber leider reichlich toxisches Osternest überreicht, das ein Vielfaches der letalen Dosis enthielt. Auf halbe Sachen hätte sich Irmgard auch niemals eingelassen.
Wegen meiner totalitären Führungsweise hatte die Kriminalpolizei Verdächtige zuhauf und um die Ermittlungen rund um meinen Exitus ein wenig zu beschleunigen, war ich nun heimlich hier im Vorzimmer meines alten Büros und placierte die beiden unzweifelhaft beschrifteten Ampullen möglichst offensichtlich, damit sie Irmgards Nachfolgerin auf alle Fälle beim Öffnen des oberen Schubs sofort in die Hände fallen mussten.
Zufrieden lächelnd schloss ich den Schub wieder. Ich wusste, dass ich nun niemals mehr in dieses blaue Büro kommen musste, weil meine Mörderin ihrer gerechten Strafe zugeführt werden würde. Beinahe lautlos und unentdeckt bestieg ich den Lift und fuhr tief hinab in mein neues, überhitztes Zuhause. Als die Kabine das Untergeschoss erreicht hatte und die Tür sich leise quietschend wieder öffnete, war ich schon verschwunden, lediglich der Schwefelgeruch, der meiner Kleidung seit mehreren Wochen anhaftete, hing noch eine geraume Zeit in der Luft.