"Zum letzten Mal: Kopf oder Zahl?" fragte sie noch einmal, bevor sie die Münze in die Luft warf. Er schaute sie verzweifelt an, ließ den ekelhaft warmen Speichel die Kehle hinunterrauschen, so dass im Kehlkopf ein demonstrativ übertriebenes, glurksendes Geräusch entstand. Langsam, aber sicher schnitten sich die Plastikschnüre, mit denen seine Hände schon viel zu lange hinter der Stuhllehne fixiert waren, in die bereits wundgeriebene Haut ein. Sie war in ihrem Element, das konnte sie, dies war ihr Geschäft: Jagen, Quälen, Erpressen und am Ende, tja, das Ende war immer offen.
Ihr fast regloses, faltenloses, glattes Gesicht näherte sich dem seinen. Er schaute angsterfüllt in ihre klaren, hellen Augen und versuchte ihrem Blick, der alles und jeden scheinbar problemlos zu durchdringen schien, standzuhalten. Ihr Atem roch nach der letzten Zigarette, die sie genüßlich geraucht hatte, nachdem sie ihn auf dem Stuhl kunstvoll und mit Hingabe befestigt hatte. Er spürte keinen Knochen mehr, alles war reiner Schmerz und seine Beine wurden langsam taub.
"Mach dir nicht in die Hosen, Mann. Du hälst dich doch für einen, oder? Du hast dir die Scheiße selbst eingebrockt, Alter, nun darfst du sie auch schön allein wieder auslöffeln. Komm schon, Kopf oder Zahl? Leben oder Tod? Ergib dich endlich deinem Schicksal, du Memme."
Von Anfang an hatte er Angst vor ihr, eine tief sitzende Angst, die er immer wieder ungeschickt zu verbergen versuchte. Doch er wusste, dass sie so etwas instinktiv spürte. Seine Schwäche, seine Furcht und natürlich sein Begehren. Etwas unbeschreibliches an ihr reizte ihn und nur deshalb hatte er sich auf ein paar Geschäfte mit ihr eingelassen. Bei ihrem ersten Zusammentreffen trug sie diesen viel zu kurzen Rock, der ihre langen, schlanken Beine so wunderbar betonte, er konnte die ganze Zeit nur auf diese wahnsinnigen Beine starren, sie konnte sagen was sie wollte, alles hätte er für sie getan. Sie wusste das und sie wusste, wie sie auf Männer wirkte und das nutzte sie eiskalt aus.
Anfänglich lief alles wunderbar, die Geschäfte liefen gut, sie hatte gute Kontakte, die sich wunderbar mit seinen ergänzten, sie machten keine Fehler, verdienten eine Menge Kohle und ab und an versackten sie gemeinsam in irgendeiner dunklen Bar, nach zahlreichen Cocktails erzählten sie sich lachend wilde Stories aus noch wilderen Zeiten, immer versuchte er dabei, in ihr einen guten Freund und Geschäftspartner zu sehen, doch das funktionierte nicht. Immer öfter verlor er sich in Träumen, Phantasien, malte sich aus, wie es wohl wäre, wenn er sie nach einem solchen Abend endlich abschleppen würde, wenn sie sich in seinem Bett räkeln würde und sie endlich sein wäre. Er gab sich seinen Träumen hin und machte unwillkürlich Fehler. Erst kam er hier und da ein wenig zu spät, vergaß schließlich wichtige Termine mit noch wichtigeren Kunden, erst warf sie ihm nur böse Blicke zu, irgendwann, nach einem völlig versauten Meeting, packte sie ihn an der Kehle, schleuderte ihn mit einer Kraft, die er von ihr nicht erwartet hätte, gegen die Wand und stellte ihm ein Ultimatum: Entweder der nächste Auftrag geht sauber über die Bühne oder er ist raus aus dem Geschäft.
Beim Gedanken an diesen Tag musste er über sich selbst lachen. Er hätte sagen sollen, dass er mit ihr nicht mehr zusammenarbeiten konnte, dass er sie nicht mehr ansehen konnte, ohne daran zu denken, sie endlich einmal vögeln zu können. Nein, er lehnte nicht ab, in der Hoffnung, doch noch bei ihr landen zu können, er sagte zu. Natürlich ging alles schief. Wie konnte es ihm nur passieren, ausgerechnet den Wagen eines stadtbekannten Crack-Dealers zu klauen, vollgestopft mit Drogen und einer Pumpgun unter dem Beifahrersitz? Zufall, Schicksal oder doch nur pure Blödheit? Irgendwann hatten die Bullen ihn angehalten und er konnte froh sein, dass er jetzt auf Kaution draußen war. Wer hatte die eigentlich hinterlegt? Sie? Der Boss? Das war jetzt auch egal.
"Mein Gott, was machst du da? Du denkst doch wohl nicht wirklich über dein mickriges, verschissenes Leben nach, oder? Du hast es verbockt, Mann, du kannst einpacken. Kapierst du das? Der Boss meinte, ich sollte mich um dich kümmern, die Sache sauber erledigen und mein Bester, nur weil ich dich mag, sitzt du hier und hängst noch nicht dort oben, am Stahlträger unter der Decke. Du hast nur noch diese eine Chance: Gewinnst du, gebe ich dir drei Tage, um diesen beschissenen Koffer ranzuschaffen, egal wie. Verlierst du, hat es sich für dich erledigt, dann bist du dran. Ich finde das fair, der Boss hätte dich schon längst bei den Eiern gepackt und sie dir bei lebendigem Leibe abgerissen. Also?"
Fair? War das fair? Scheiß Geschäfte, wie oft hatte er schon anderen gedroht, ihnen ein paar mal mit der Knarre vor dem Gesicht herumgefuchtelt, ein paar morsche Finger gebrochen, ein bisschen geprügelt, weiter musste er nie gehen, alle hatten schnell die Hosen gestrichen voll. So wie er jetzt. Sie kannte keine Kompromisse und in der Tat konnte er froh sein, dass er immer noch am Leben war. Was für ein Leben eigentlich? Er war an einen Stuhl gefesselt, ohne wirklichen Ausweg, mit einer zauberhaften, aber eiskalten Lady, die nicht zögern würde, ihn um die Ecke zu bringen, und der fünfzigprozentigen Chance, für die nächsten drei Tage am Leben zu bleiben. Scheiße, dachte er, Scheiße, aber eine wirkliche Wahl hatte er wohl nicht.
"Zahl. Nein, doch lieber Kopf. Ähemm..."
"Hör auf zu stottern, Penner, sonst bist du erledigt."
"Okay, Kopf. Ich nehme Kopf. Ja, mach schon, ich nehme Kopf."
Zuletzt brüllte er fast vor Verzweiflung, doch dann ergab er sich seinem Schicksal, dass in eiskalter Engelsgestalt vor ihm stand und ihn angrinste. Mit ruhiger Hand warf sie die Münze nach oben. Dieser Moment lief für ihn in Zeitlupe ab, scheinbar stundenlang drehte sich die Münze in der Luft, irgendwann hatte sie ihren Höhepunkt erreicht, fiel noch langsamer nach unten, in ihre geöffnete Hand. Sie schloss die Hand, schaute ihn noch einmal lange mit ihrem durchdringenden Blick an, ihre Finger lösten sich von der Handfläche, sie blickte auf die darauf liegende Münze, langsam und vorsichtig, so dass er sie nicht sehen konnte. Mit einem Lächeln schloss sie wieder ihre Finger um die Münze und steckte diese schnell in ihre Jackentasche. Mit angsterfülltem Blick schaute er sie an, er zitterte am ganzen Leib, fast hätte er sich in die Hosen gemacht, und sie sagte mit ihrer süßesten Stimme:
"Glück gehabt, Memme. Wirklich Glück gehabt."