Eine Perlenschnur aus Regentropfen neben der anderen hing senkrecht vom bleigrauen Himmel. Dicht an dicht fielen sie in endlosen Kaskaden hinab. Ein Vorhang aus Wasserperlen.
"Was willst du hier?", fragte sie. Nur ihr Kopf war durch den schmalen Türspalt zu sehen, den sie für ihn zu öffnen bereit war. "Mit dir reden. Dich sehen.", antwortete er. Von seiner Kinnspitze tropfte Regenwasser und von seiner Stirn rannen, immer den gleichen Weg neben der rechten Augenbraue und vorbei am rechten Nasenflügel suchend, ganze Familien von Regentropfen. Eine, zwei, ein halbes Dutzend verschluckte er beim Sprechen.
"Reden? Worüber?", stieß sie hervor. Sie trug das schwarze Hemd, dass sie gemeinsam gekauft hatten. Spitze an den kurzen Ärmeln, am langen, runden Ausschnitt und am hüftlangen Saum. Ein passender BH und ein raffiniertes Höschen gehörten dazu. Nichts von alledem hatte sie lange anbehalten, damals. Ob sie eines der anderen Teile gerade trug, konnte er nicht ausmachen.
"Über uns. Mich. Dich.", sagte er. Er schüttelte sachte den Kopf. Regentropfen spritzten in alle Richtungen davon. Einige trafen ihr Gesicht. Sie zuckte unmerklich zusammen, als die kalte Nässe ihre Haut berührte.
"Schreib mir einen Brief.", sagte sie. "Oder", fuhr sie fort, "mail mir. Ich werde dir dann antworten. Vielleicht. Wenn ich ..."
"Bitte!", sagte er rasch, "bitte lass mich hier nicht im Regen stehen!" Eine weitere Regentropfenfamilie verschwand zwischen seinen Lippen. Sich auf die Lippen beißend, sah sie ihm prüfend in die Augen. "Ist das wieder einer deiner Tricks?", fragte sie scharf.
"Nein. Kein Trick. Kein Trick!"
Unter der Jacke wies sein Shirt dunkle Flecken auf, dort, wo der Regen sich einen Weg gesucht hatte. Sie warf sich eine fast knielange Strickjacke über und ihm ein Handtuch zu. Sie stellte die Kaffeemaschine an. "Rede!", sagte sie, "deshalb bist du gekommen, oder? Zum Reden!"
"Warum bist du so zu mir?", fragte er unter dem Handtuch hervor. Sie knallte die Zuckerdose auf den Tisch und antworte: "Warum bist du so ein Arschloch?"
"Es war von Anfang an klar, dass du nicht die Einzige bist. Ich habe dich hier nie angelogen. Du wusstest, dass es andere gibt und du warst einverstanden.", sagte er und warf das Handtuch achtlos zu Boden.
Sie schüttelte stumm den Kopf.
Die Kaffeemaschine ächzte und seufzte. Mit einem lauten Knacken sprang der Kühlschrank an. Noch bevor die Maschine vollkommen still war, zog sie die Kanne hervor und füllte zwei Tassen. Die nachlaufende Flüssigkeit verdampfte zischend auf der heißen Wärmeplatte. "Trink den verdammten Kaffee und dann geh.", sagte sie.
"Ich will dich nicht verlieren." sagte er.
"Es gibt genug andere."
"Aber du bist du. Niemand sonst ist du."
"Du meinst, niemand sonst bläst dir den Schwanz wie ich. Oder schreit wie ich. Oder hat dieselbe BH-Grösse wie ich."
"Du bist du. Und ich will dich nicht verlieren."
"Das sagtest du schon. Trink aus. Geh."
"Ich verstehe nicht, wieso du dich überhaupt jemals auf mich eingelassen hast, wenn du so ein Problem damit hast."
Sie riss ihm die leere Tasse aus der Hand. Scheppernd fiel das Geschirr in die Spüle. Er griff nach ihrer Hand, verfehlte sie jedoch. Sie sprang hastig zurück. "Raus!"
Draussen regnete es noch immer.
Er starrte ihr abwartend in die Augen. "Warum das alles? Wozu das alles?", fragte er und in seiner Stimme klang nun leise Wut mit.
"Es ist richtig, dass ich es wusste, von Anfang an.", sagte sie leise. Ja, ich war niemals die Einzige, aber du hast mir immer das Gefühl gegeben, die Einzige zu sein. Du hast mir das Gefühl gegeben, einzigartig zu sein. Ich bin ich. Nur ich kann ich sein. Ich bin die Frau. Die einzige Frau, die einzigartig ist."
Er streckte die Arme nach ihr aus. Sie wich zurück.
"Ich musste mich entscheiden, zwischen dem Gefühl, einzig und einzigartig zu sein und dem Wissen, dass es andere gibt."
Sie sah ihm fest in die Augen.
"Ich habe mich für das Gefühl entschieden."
Die Tür fiel ins Schloss. Wie ein Vorhang aus tausenden und abertausenden Perlenschnüren fiel der Regen senkrecht vom bleigrauen Himmel.