"Revolution! Revolution!", rief der kleine Hans, während er die Karotte über seinem Kopf schwenkte und lachte.
Er hatte wieder seine Tabletten ausgespuckt, heimlich, der Schelm, und natürlich gingen jetzt sämtlichen Pferde mit ihm durch.
Er war schon ganz rot angelaufen, und die Karotte, ja, die sollte er eigentlich essen. Ich krallte mich an meinem Stuhl fest und gab mir alle Mühe, ihn zu ignorieren. Ich implizierte mir selbst ein „es geht mir gut!“ und überlegte, wo ich meinen geheimen Ort der Ruhe liegen gelassen hatte.
Es war so laut um mich herum, so laut, so laut.
Hinter dem kleinen Hans (kein Kind, nein, ein kleinwüchsiger Irrer mit wirren Bartstoppeln) kniete eine Frau und wusch ihre imaginäre Wäsche in ihrem imaginären Bach und sang „Heidi“ in ihrer ganz persönlichen Fassung. Hinter mir standen zwei Opis beim Pingpong. Keiner traf den Ball, aber sie beschimpften sich lauthals und ordinär, und sie schienen damit ganz zufrieden zu sein. Es war jedes Mal dasselbe: Nach ein paar Minuten waren sie sich des Ball Aufhebens zu schade und begnügten sich damit, auf die Platte gelehnt und sabbernd ihre Kraftausdrücke hin und her zu pfeffern.
Und ich? Ich suchte den Ort der Ruhe. Seit Jahren, wohlgemerkt.
Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, aber das macht nichts. Nur Krach. Ach.
Der kleine Hans schwenkte weiter die Karotte, die etwas kürzer geworden war, weil Turbo Tina, die Ex-Nutte aus Kambodscha, eben durch den Raum gesaust und quasi im Vorbeiflug ein Stück abgebissen hatte. Ja, sie war schnell, und ja, sie war gut mit dem Mund.
Der kleine Hans schwenkte also seine kürzer gewordene Karotte und kam mit seinem roten Kopf bedrohlich nah in meine Richtung. Er stank aus dem Mund, und ohne Drogen war er durch und durch unberechenbar.
„Revolutiooon!“ flüsterte er in mein Ohr - so weit war er herangekommen. Ich krallte mich fest, an meinen Stuhl.
Oh Ruhe, wo bist du?
„Revoluuuution!“ wisperte er melodisch weiter.
„Ja was denn?“ platzte es aus mir heraus. „Wo denn?“ setzte ich hinzu. Sowie: „Na und?“
Er blickte mysteriös drein und lies sich nicht von mir beirren.
„Du bist nicht, nein, bist du nicht, du bist nicht neutral, bist du nicht.“
Hätte ich seine Ration Pillen, ich würde sie sofort schlucken.
Stille, komm zu mir!
Wenn sie kam, so war sie laut und klein und stank aus dem Mund:
„Drei Federn hat Olint! Möcht´ er mit dieser Alles schreiben! Huiiiii!“
Ach. Das war mir zu absurd, ehrlich. Meine Finger taten weh vom Festkrallen, und mir wurde etwas schwummrig. Wo waren meine imaginären Freunde - die könnten mich ablenken. Ach, die Drogen hatten sie verdrängt. Ach, ach.
„Du bist nicht Dreifedern, du bist Tiefer, Tiefer. Revolutiooon!“
Wenn mir einer so käme, dachte ich, als mir klar wurde, das mir einer so kam, jetzt gerade, hier.
Ach.
Plötzlich flackerte das Licht. Gestalten verschwammen, blitzten auf, verschwanden, flossen ineinander, Fraktale rasten umher, ein ungeheures Geräusch brüllte auf, ich schrie, und dann …
Dunkelheit.
Stille.
Mein Ort der Ruhe.
Heim.
Glückseligkeit.
Ich seufze. Nach und nach kommen Licht und Formen zurück.
Ich sehe mich um. Das Zimmer ist neu, ist anders. Die Anstalt ist verschwunden. Ich sitze auf einem Sessel aus feinem Leder, in einem Raum aus Wärme und Geborgenheit. Der Fernseher vor mir ist groß und läuft. Obama ist Präsident. Gut gebräunt. Soso. Traumfetzen huschen vor meinem inneren Auge umher, ich suche sie zu greifen. Schwerlich kommt ein Sinn zustande. Nur ein Wort habe ich mir gemerkt.
Revolution.
Es klopft. Mein Pfleger kommt herein, gibt mir meine Pillen.
„Na, wie geht es ihnen heute?“ fragt er fürsorglich und macht sich bereit, mich zu waschen.
„Huiii, Dreifedern bin ich, damit möcht´ ich schreiben.“ säusele ich sinnlos. Die Pillen wirken schnell.
„Ja, ja, is gut.“
„Mir ist so langweilig.“
„Ja, gute Frau, ich weiß, kann ich verstehen.“ Er tupft mir etwas Speichel vom Mundwinkel.
Die Waschung beginnt, dauert an, findet ihr Ende, der Pfleger verabschiedet sich und lässt mich allein zurück. Ich und mein Sessel und der Fernseher und immer noch Obama und meine Pillen.
Alt sein ist seltsam, denke ich, während ich nach der Fernbedienung greife und die Stille, die mich so schrecklich langweilt mit Schlagermusik zu vertreiben suche.
Irgendwer singt eine interessante Version von Heidi. Das ist gut. Ich greife nach der Tupperdose und angele mir eine Karotte. Die ist lecker. Ich denke an meine Familie. Mein verstorbener Ehemann, der kleine Mistkerl und seine Hure, Großvater und dessen Bruder, meine Mutter … ach, wie ich sie vermisse. Ach, wie froh ich bin, sie los zu sein. Ach.
Mit ihnen war es schwierig, aber, ja, ohne sie ist es noch viel schwieriger.
Feststellung: Wir alle scheinen Insassen einer globalen Heil- und Pflegeanstalt zu sein. Nie sind wir zufrieden, immer am nörgeln, kein Weg scheint der Richtige zu sein. An die Regeln halten? Ha! Scheiße. Hätte ich nur öfters getan, was ich wirklich tun wollte, denke ich, an meinem Sessel festgeklebt, als alte, schwache Frau. Wozu es anderen Recht machen wollen? Damit man sich später ärgert, weil man unzufrieden ist! Ach, ach. Selbst mein Mann hat es besser gemacht, mit dieser Nutte. Immerhin hatte er Spaß. Ich mache ihm keinen Vorwurf. Mir mache ich Einen. Ich hätte ihm den Hals brechen sollen, dem Mistkerl. Ja. Tja.
Ich knabbere an meiner Karotte und überlege, was ich jetzt noch revolutionäres machen könnte...