Dienstag, 7. Oktober 2008
Ein Sommermorgen

Mitten im Satz wurde mir klar, dass meine Argumente hier nicht zählten. Ein Blick in die Runde machte die Sache auch nicht besser. Es ging hier offensichtlich nur um eines: Wer wird den ersten Schlag ausführen. Der erste Schlag war wichtig. Wer ihn führte hatte einen weiteren Schritt auf dem Weg zum Anführer vollzogen. Allerdings war er es auch, der für den Rest der Gruppe gerade stehen musste, sollte es so weit kommen. Der erste Schlag würde eine Lawine in Bewegung setzen. Weitere Schläge folgen, einige einfach so, andere gezielt ins Gesicht oder auf den Hoden. Dann folgen die Tritte. Soviel stand fest. Ohne Tritte ging es nicht.

Eine leichte Brise vom Rhein her kam auf und kühlte die Luft etwas ab. Das Tragflügelboot, das morgens die italienischen Gastarbeiter von den vier Hochhäusern rüber auf die andere Seite zu den FORD-Werken brachte, war schon eine halbe Stunde weg. Von dieser Seite hatte ich keine Hilfe zu erwarten. Die Brise ließ die Blätter der umstehenden Bäume rascheln. Der Morgen war schön, aber was bedeutete das schon? Es wurde unruhig in der Gruppe um mich herum, einer schubste mich, aber das war noch nicht das Startsignal. Ich hatte über die Blätter eine Frage überhört, die ihre Antwort einforderte. Die Sonne schien von hinten und wärmte mir den Rücken. Ich hatte keine Antwort, wusste die Frage nicht. Außerdem war die Antwort in jedem Fall falsch. Das Ergebnis stand ja von vorne herein fest.

Uwe, Freddie oder Reinhold? Ich erwartete das Startsignal aus dieser Ecke. Die anderen waren nur dabei, weil es sonst sie treffen könnte. Sie wollten lieber schlagen, als geschlagen werden. Von den anderen waren hauptsächlich Tritte zu erwarten, keine Schläge. Tritte sind was für Feiglinge, und Feiglinge waren sie alle. Feiglinge, die versuchen sich durch Schläge zu befreien. Ich begann zu weinen. Ganz langsam flossen ein paar Tränen über meine Wangen. Warum musste das alles nur sein? Und warum jeden Tag aufs Neue? Warum schlug ich nicht zurück? Warum konnte ich nicht auf einen von den dreien zugehen, sie auffordern die Prügel zu lassen und als Unterstreichung dieser Aussage einen beherzten Schlag platzieren, egal wohin? Weil ich ein Weichei bin? Warum bin ich das? Was hemmt mich einfach drauf zu schlagen, so wie alle anderen auch?

Eine Faust traf mich am Hoden und wie eine Explosion strahlte der Schmerz aus. Ich konnte nicht sehen, woher der Schlag kam, wer den Ruhm einheimsen würde. Dann bekam ich einen Schlag an den Kopf. Ich taumelte etwas, bückte mich vor Schmerzen nach vorne und wurde durch einen Tritt von hinten zu Boden geworfen. Die Stunde der Feiglinge brach an. Es hagelte Tritte gegen meine Beine, in die Seite, auf den Rücken. Ich versuchte meinen Kopf zu schützen, doch ein Tritt gegen ein Ohr ließ mich vollends zusammensacken. Ein Tritt traf mein Schienbein das höllisch brannte, einer ließ mein Steißbein brechen. Diesen Schmerz spürte ich kaum noch.

Andere Schüler gingen vorbei, beobachteten die Szene auf der Wiese neben dem kleinen Sportplatz, und bogen dann auf den Schulhof ein. Die Klingel schellte zum zweiten mal. Die Tritte wurden weniger. Uwe stand da, wartete bis ich meine Deckung aufhob um zu schauen was um mich herum passiert, wer noch da ist, und schlug mit aller Wucht seine Faust in mein rechtes Auge. Dann drehte er sich um. Ich war jetzt in der Fünften. Bis zur Neunten musste ich noch. Eine leise Stimme sprach zu mir, dass es eine Zeit geben würde, da das alles aufhört. Ich hörte ein paar Blätter rauschen. Ein Binnenschiffer auf dem Rhein ließ trotz bestem Wetter sein Horn ertönen. Ein Vogel sang irgendwo. Ich suchte meine Tasche, sammelte den verstreuten Inhalt wieder ein und folgte den verspäteten Schülern auf das Gelände.