Sonntag, 23. März 2008
Kunstverstand

„Und das soll Kunst sein?“ Unverständnis und Entrüstung tropften aus der Stimme. Sie zog die Schultern zusammen und wartete auf die Fortsetzung, die von einem Schnauben angekündigt wurde. „Meine vierjährige Nichte malt schönere Bilder.“ Ja, ja, ja, all die begabten Kinder, die so schöne Bilder malten. Schön, Kunst hatte gefälligst schön zu sein. Der Raum war kurz vorm Platzen, all die Borniertheit der sonntäglichen Bürger füllte die Luft mit dem dumpfen Geruch der Arroganz. Sie drehte sich langsam und beiläufig um, warf einen Blick auf den Sprecher, der sich wiederum nach seinem Publikum umsah. Er, der die Rolle des Kritikers übernommen hatte, wollte Beifall hören, Zustimmung bekommen. Die Reaktion der Umstehenden war allerdings verhalten, vielleicht hatten die anderen ein differenzierteres Weltbild. „Also wirklich," hub der Sprecher wieder an,“das hat doch mit Kunst nichts zu tun. Der Maler kann ja noch nicht mal malen. Da stimmt doch gar nichts, die Perspektive ist völlig verzehrt.“

Nun reichte es. Diesem elenden Kleingeist würde sie es zeigen. Sie strafte die Schulter, machte den Rücken gerade und stürzte wutentbrannt auf den Schwammkopf zu. „So so, das ist also keine Kunst. Was ist denn dann Ihrer unmaßgeblichen Meinung nach Kunst.“ Der Mann stutzte, sah sie überrascht an und stotterte ein wenig verblüfft: „Die richtige Kunst eben. Die alten Meister und so.“ „Ah ja, die alten Meister, wieso? Was ist daran Kunst?“ Mittlerweile hatten sich einige der Besucher um sie und ihren Gegner- ja so sah sie ihn, als Gegner - gescharrt und warteten darauf, was nun folgen würde.

„Die konnten wenigstens malen, beherrschten Perspektive und Farbe und konnten etwas.“ „Haben Sie bornierter Stierschädel sich eigentlich mal das Bild richtig angesehen? Haben Sie nur ansatzweise versucht, zu begreifen, was Ihnen das Bild erzählen will?“ Sie zitterte vor Wut. Diese alltägliche Ignoranz und Borniertheit war einfach zu viel. „Wieso? Was erzählt das Bild denn? Ich sehe da nur dunkle Flecken, und in der Mitte eine blau-grünes etwas.“ „Ach, immerhin das haben sie schon erkannt. Und sagt Ihnen das nichts?“ Der Mann sah sie fragend an, schaute sich um. Die anderen Besucher kamen näher, umringten die Streitenden. Sie holte Luft und richtete sich auf, schien zu wachsen. Von oben herab und mit lauter Stimme schrillte sie ihn an: „Sagt Ihnen das nichts? Na, na... ich höre ja gar nichts.“

Der Mann nestelte an seinem blauen Jackett rum, schaute sich suchend um, blickte auf das Bild:“Sieht so aus, als würden die dunklen Flecken die blau-grüne Gestalt umringen. Es sieht bedrohlich aus.“ „Ach ja, sie sehen Bedrohung, vielleicht sogar Angst, aber der Künstler ist unfähig?“ Sie sprühte vor Zorn, es fehlte nur noch, dass ihr Funken aus den Augen sprangen. Der Mann wurde kleiner. Die Besucher fanden Gefallen an der Szene, kamen näher, jeder versuchte einen Blick auf die beiden Kontrahenten zu werfen.

Ihre Wut war zügellos. Der Mann schien sich in sich verkriechen zu wollen, blickte fast schon panisch auf das Bild. „Die dunklen Gestalten sind böse, sie wollen die farbige Gestalt in der Mitte zerstören, sie bedrängen sie. Die grünblaue Gestalt hat Angst, sucht nach einem Ausweg, will weglaufen, ist starr vor Schreck.“ „Na, sieh mal einer an.“ Jedes Wort ein Schlag ins Gesicht. „Das können Sie also sehen? Und was ist mit der Perspektive? Begreifen Sie die jetzt?“ Sie bohrte ihren Blick in seine Augen, liess nicht los. Zwang ihn, den Blick zu halten. Er zitterte: „Das sehe ich nicht, das fühle ich.“ „Sehen Sie, vielleicht ist der Künstler doch nicht so unbegabt.“ Der Mann öffnete den Mund, sagte aber nichts. Sie schaute in die Runde, gab das Zeichen und die umringenden Besucher traten nach vorn, gingen schrittchenweise auf den Mann zu. Der Kreis wurde enger. Der Mann hatte Panik im Blick.

„Guck mal, Mami, gestern sah das Bild aber anders aus. Da war da noch ein blauer Mensch in der Mitte, heute sieht man nur noch schwarze Gestalten. Guck doch mal!“, rief das Kind einer Frau nach. Sie betrachtete das fragende Gesicht der Mutter und folgte deren Blick auf das Bild. Ja, nur noch dunkle Gestalten. Sie lächelte zufrieden.