Montag, 25. Februar 2008
Der Traum des Neophyten

Ein Schlag mit der gestreckten Hand auf die schimmernde Wasseroberfläche, die träge den kaltscheinenden Mond wiederspiegelte. Ein Schlag mit der Wucht des Zorns über die ewige Dunkelheit, in der er lebte. Ein Schlag wie ein Steinwurf. Tropfen spritzen auf, konzentrische Kreise um Einschlagstelle und Wassertropfen verzerrten das trübe Abbild, dessen Quelle aber ungerührt am Himmel vor sich hin schien. Langsam glättete sich die Oberfläche des Tümpels, nichts war geschehen.

Wie so oft saß er da, beobachtete, analysierte, dachte vor sich hin, ohne dabei irgendetwas zu bewegen. Den Weg der Erkenntnis hatte der Meister es genannt. Pah, was für elende Erkentnisse waren aus der Betrachtung von Spiegelbildern zu gewinnen. Immer sah er nur den Wiederschein der Dinge, nie die Dinge selbst. Alles wurde nur mittelbar an ihn herangelassen und dann noch mal durch Beobachtung und Analyse gefiltert, bis nur noch die Essenz übrigblieb. Eine intellektuelle Leistung, die dem Leben den Boden unter den Füßen wegzog.

Als er dem Meister vor Jahren begegnete, hatte ihn die geistige Präsenz des Meisters fasziniert. Er schien nur noch Geist zu sein, ein Geist, der das Sein entmaterialisierte und nur noch Denken war. Es schien ihm, als ob der Weg des Meisters zu größter Klarheit und Weisheit führte. Begierig hatte er die Lektionen begonnen, hatte sich von der Welt entfernt, sie nur noch beobachtet und immer größeren Abstand zum niederen Leben gewonnen. Er hatte sich als gelehriger Schüler behauptet, hatte die anderen in der Gruppe bald hinter sich gelassen und sich gefreut, dass ihn kaum noch etwas berühren konnte und nur das Feuer der Gedanken das Sein erfüllte. Er war so stolz auf sich gewesen, was dem Meister nicht gefiel, denn der sah das als Ausdruck des Dünkels. Der Meister hatte ihm oft gesagt, er solle sich in Demut üben. Er jedoch konnte das gar nicht verstehen, war er doch schon so vergeistigt, dass das Materielle ihn nicht mehr interessierte, er sich der Existenz der Dinge nicht mehr bewusst war und glaubte, dass er nun allem irdischen entkommen sei. Welch ein armer Tropf war er doch.

Gelegentlich spürte er einen beissenden Hunger, der ihn innerlich zerkaute, den er aber immer wieder erfolgreich durch Fasten und Exerzitien besiegte , was ihn dann wieder in seinem Weg zu bestärken schien. Sich selbst zur Gelassenheit zwingend, war er weiter ins Dunkel vorgedrungen und hatte nur noch die Leuchtkraft der reinen Gedanken als Wegweiser akzeptiert. Er hatte so große Fortschritte gemacht, dass er schon fast den Meister überflügelt hatte. Bis... ja bis er sie gesehen hatte.

Sie.

Eines Nachts hatte er über dem Spiegelbild des Mondes meditiert, hatte sich völlig in die Idee des Mondes vertieft, so sehr, dass er in einen tranceartigen Schlaf gefallen war, aus dem er von einem lauten Lachen ins Jetzt katapultiert wurde. Ein Lachen, tief, kehlig, fast gurrend und das lebendigste, was sein Ohr seit Ewigkeiten getroffen hatte. Es schüttelte ihn, rannte seine geistige Festung im Handumdrehen ein und liess ihn zittern. Verwirrt hatte er nach der Quelle des Lachens gesucht und blickte völlig unvorbereitet in das Gesicht einer vor Leben überschäumenden Frau, die im Morgengrauen mit ihren Freundinnen ein frühes Bad im Tümpel nahm. Normalerweise war er um diese Zeit schon längst wieder in seiner Denkerklause, er wusste nichts vom Morgengrauen, der leisen, aber wohligen Kraft der ersten Sonnenstrahlen und vor allem nichts vom Lachen.

Er blickte erstaunt in große, strahlende Augen, die ihn schmunzelnd streiften, kurz musterten und sich dann wieder den Gefährtinnen zuwandten. Die Frauen spielten ausgelassen im Wasser, beachteten ihn kaum und mit dem Gefühl eines ertappten Hühnerdiebes hatte er sich schnell ins Dickicht zurückgezogen.
Danach war er immer wieder im Morgengrauen an den Teich zurückgekehrt, aber sie erschien nicht wieder. Er suchte sie. Ihr Bild und ihr Lachen hatten sich in sein Denken eingebrannt und nährten eine Sehnsucht, die mit nichts zu bekämpfen war. Kein Fasten, keine Exerzitien, kein Analysieren konnte die Glut des Bildes löschen.

Eines Morgens war sie wieder da. Er saß wieder dort, versuchte, sich in Gedanken zu vertiefen und spürte ihre Anwesenheit schon bevor er sie sah. Sie war allein. Er erschrak, als er bemerkte, dass sie sich auf ihn zu bewegte. Wollte aufstehen und gehen, wollte bleiben, wollte reden, wollte fliehen. Sie stand vor ihm, die aufgehende Sonne im Rücken und sah aus grünen Augen auf ihn herunter. Ihr „Guten Morgen, Fremder “ traf ihn wie ein Schlag. Nein, er konnte nichts sagen, starrte sie nur an, was ihr unangenehm war. Endlich entrang sich ein tonloses „Guten Morgen“ seinem Mund. Es musste wie eine Frage geklungen haben, denn sie antwortete: „Ja, ich denke, das ist er. Ein guter Morgen.“ Lächelte und drehte sich um. Als das Denken wieder ins Bewusstsein quoll, war sie schon fort.

Seit dem saß er nun Nacht für Nacht am Teich, verfluchte den Mond, hasste das Denken und sehnte sich nach einem Leben, das es in den reinen Gedanken nicht geben konnte. Die Sehnsucht nach der Sonne hatte ihn infiziert, der Weg des Mondes war ihm verleidet. Die Freiheit vom körperlichen Sein hatte sich in ein Gefängnis gewandelt, das ihn Tantalusqualen leiden liess.
Er hatte seine Meisterin gefunden.

***

Der alte Meister sah kopfschüttelnd auf, das Gesicht von einem Anflug von Zorn gezeichnet. Mit mildem Tadel sprach er: „Junger Mann, Du denkst immer noch in Klischees. Du hast noch lange nicht verstanden, was Denken heisst. Du vereinfachst, wo Du es nicht solltest und bist viel zu kompliziert, wo es um einfaches Verstehen geht. Denk noch mal darüber nach, die Geschichte sollte ganz anders verlaufen. Du musst noch sehr weit gehen...“