Natürlich war er wütend über sich. Oft, oft und oft hatte er sich gesagt, dass es andere Wege gab, geben musste. Schon damals, als die Mutter ihm beim ersten Mal traurig über den Kopf gestreichelt hatte.
"Nicht so!", sagte sie. "Rede mit ihnen."
Später hatte er dieses Kopfstreicheln, das immer gleich war, zu hassen gelernt. Da begann er, gegen diese Streichelhand zu stubsen, unmerklich erst und später immer heftiger. Und noch später schob er die Hand einfach weg.
"Du hast ja keine Ahnung!", sagte er. Denn er hatte das mit dem Reden probiert, ein paar Mal. "Das da draussen ist die Hölle. Wer da zu viel redet, sagt bald gar nichts mehr."
Er hatte zu trainieren begonnen, nicht im Verein, sondern zu Hause. Das durch kleine Jobs verdiente Geld setzte er in allerhand Sportgeräte um, die sein Zimmer verstopften und von seiner Mutter "Folterinstrumente" genannt wurden. Manchmal stand sie, während er schwitzend irgendwelche Gewichte hob, sah ihm zu und forderte ihn auf: "Lies doch mal ein Buch."
Es war die falsche Gegend, um Bücher zu lesen. Aber das wollte seine Mutter nicht verstehen. Er verzichtete bald darauf, ihr irgend etwas erklären zu wollen. Sie begriff einfach nicht.
So wenig wie der Jugendrichter, der ihn ein Mal ermahnte und auch ein zweites Mal, beim dritten Mal aber wegsteckte, so lange bis eben kein Jugendrichter mehr für ihn zuständig war. Da hatte er längst verstanden, dass andere Menschen anders lebten. Dass man weg ziehen kann und etwas Vernünftiges tun. Wäre da nur nicht diese Wut gewesen, die eigentlich immer da war. Sie kochte, meistens auf kleiner Flamme, aber oft genug auch über. Inzwischen bei den kleinsten Anlässen.
Er selbst hasste diese laute, provozierende Art, in der er mit den Leuten sprach, doch inzwischen konnte er nicht mehr anders. Es schien ihm die einzig mögliche Art, mit ihnen umzugehen. Wenn er selbst provozierte, hatte er die Abläufe in der Hand, war stets schon auf dem Sprung, wo die anderen noch nichts vom Fortgang ahnten. Es ging immer gleich aus und spielte keine Rolle, ob er den ersten Schlag führte oder sie. Er siegte jedes Mal. Der Ruf des Schlägers eilte ihm voraus wo immer er hin kam und brachte ihm einen ängstlichen Respekt ein.
Hier, in seiner Einzelzelle, wusste er sehr genau, wie es anders zu machen war. Und es gab auch keinen Grund mehr, sich selbst und die eigene Kraft ständig zu beweisen. Begegnete er anderen Häftlingen, wichen die ihm angespannt aus. Sie konnten nicht wissen, dass ihn diese Dinge schon lange nicht mehr interessierten.
Er las jetzt all die Bücher, die er - seiner Mutter zufolge - schon vor etlichen Jahren hätte lesen sollen. Er war ruhiger geworden und nachdenklicher, und er kannte nun jede Menge Worte, die er früher als "Dommzeuch" abgetan hatte. Er wusste jetzt, dass sein Leben ein einziges Klischee war. Aber es war auch sein Leben.
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Natürlich war er wütend über sich. Natürlich ärgerte er sich, dass alles nicht so richtig lief, nicht so richtig rund, nicht so richtig glatt und nicht so richtig in der Spur. Natürlich hätte er es alles gern anders gehabt. Besser vielleicht sogar. Jedenfalls weniger aufreibend.
Aber dann, andererseits, war dieses ständige Berreden und Zerreden einfach nicht sein Ding. Da, wo sie sprechen wollte, Punkte offen legen, klären, ausräumen, da wollte er einfach nur Zudecken und gut sein lassen. Oder notfalls auch schlecht sein lassen. Und dann nicht allzu viel darüber nachdenken. Dieses ganze Gerede, das tat jedenfalls nicht gut, dadurch war nichts gewonnen. Das war viel zu viel Aufwand für - ja, für was denn überhaupt. Diese ganze Sache mit dem Leben, wer blickt denn da schon durch.
Natürlich war er wütend auf sich. Aber was war denn die Alternative. Würde er nun anfangen, darüber nachzudenken, würden weitere Gedanken folgen, und weitere, und weitere - wie eine Flutwelle würden sie heranrollen, alles niederreißen und er würde in ihnen ersaufen.
So ließ er die Bierflasche aufploppen und zog die um sich selbst errichteten Mauern noch ein weiteres Stückchen höher.
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Natürlich war er wütend über sich. Er hätte auf so viele Arten reagieren können, im besten Falle sogar überhaupt nicht, aber nichts besseres war ihm eingefallen, als eine spöttische Bemerkung zu machen um sich dann über den eigenen Witz vor Lachen auszuschütten. Sogar noch als sie sich schweigend erhob und in ihre Sachen schlüpfte, sich dabei in den Trägern des Büstenhalters verheddernd, lachte er. Auf der Suche nach ihren Schuhen verließ sie schließlich den Raum. Er stand leise glucksend da und nur zögernd wich die Erheiterung von seinem Gesicht. Und dann war es plötzlich still in der kleinen Wohnung. Er lauschte in den kurzen Flur hinaus, hörte jedoch nichts als seinen eigenen, vom Lachen noch immer rasch gehenden Atem.
Er rief nach ihr, mehr eine irritierte Frage als eine Aufforderung. Sie antwortete nicht und er hatte keine Ahnung, wo sie war und was sie tat. Der Flur lag dunkel da, nur ein schmaler Lichtstreifen unter der Küchentür hindurch verlieh ihm Kontur. Erneut rief er ihren Namen und wieder antwortete sie nicht. Er hatte ihr Gesicht vor Augen, wie sie ihn so sanft angesehen hatte, als sie gerade eben noch vor ihm lag, die Arme ihm entgegengestreckt, die Schenkel leicht gespreizt. Er war im Begriff, sich das Hemd abzustreifen, als sie ihm die Worte zugeflüstert hatte, welche so im Hals kitzelten. Nackt war sie dagelegen, sich ihm anbietend und wartend auf seine Hände, seinen Mund, seinen erregt verhärteten Penis und während er darüber nachdachte, in welcher Stellung er zuerst in sie eindringen solle, sagte sie es. Erst hatte er gar nicht richtig begriffen, was sie gesagt hatte, vielleicht weil es so gar nicht zu ihr passte. Wild war sie und lebendig, dabei ungestüm und zügellos. Und voller Unruhe war sie. Ein unruhiges Bündel Energie, mal in grelles Licht getaucht, so dass man kaum hinsehen konnte und dann unverhofft fast hinter plötzlich über sie hereinfallende Schatten verschwunden, von denen niemand wusste, aus was sie gemacht waren, außer sie selbst. Und bei allem, was sie war, wie sie war, war sie vor allem wie der Wind: heute hier, morgen da, niemandes Kind und nirgendwo daheim.
Vorsichtig öffnete er die Tür zur Küche. Sie saß mit dem Rücken zu ihm auf einem der Stühle dicht am Fenster. Im schwachen Schein des Lämpchens direkt oberhalb der Kochplatte erinnerten ihn ihre mitten im Raum liegenden Sandalen an Heringe, gestrandet und verendet auf dem Fußboden seiner winzigen Küche. Ihm fiel ein, wie er nach der Schere gesucht hatte, als sie sich einmal die Füße wund gelaufen und beim Ankleiden die Blessuren entdeckte hatte. Wie sie gelacht hatte, als sie genau an derselben Stelle gesessen hatte wie jetzt. Kurz zuvor hatten sie noch nebeneinander auf seinem Bett gelegen, gefangen in gemeinsamer Lust. Danach waren sie eingedöst, sich kaum berührend, aber doch nah genug, den anderen zu spüren. Sie hatte die Decke über ihn gezogen, erinnerte er sich plötzlich. Er war beinahe fest eingeschlafen, als sie sich plötzlich aus der Bettdecke schälte und ihm die Hälfte bis unter das Kinn über den nackten, nach dem Liebesspiel langsam auskühlenden Körper gelegt hatte. Später dann war sie lachend das Treppenhaus hinunter gehüpft, hatte Faxen gemacht, gescherzt und war in großen Schritten neben ihm her gesaust. Das mit der Bettdecke, das war doch nichts, über das er sich den Kopf hätte zerbrechen sollte. Oder doch?
Im Spiegelbild des Küchenfensters wirkten die Schatten unter ihren Augen wie die Ankündigung des Endes einer tödlichen Krankheit. Er machte einen Schritt auf sie zu und blieb mit einem Fuß an ihrer Sandale hängen. Das leise Geräusch veranlasste sie, abweisend die Hand zu heben. „Nein. Schon gut.“, sagte sie leise und der Klang ihrer Stimme war heiser. „Es tut mir leid...“ setzte er an, aber wieder hob sie die Hand. Er wusste nichts mehr zu sagen und sie sagte auch nichts weiter.
Sie war fast unten an dem hölzernen Eingangsportal angekommen, als er ihren Namen rief. An den vielen Windungen des Treppengeländers vorbei betrachtet, wirkte ihr Gesicht winzig, wie das eines kleinen Kindes. „Es ist gut, dass du jetzt gehst!“, rief er hinab. Einen Augenblick verharrte sie regungslos, dann drehte sich sie wortlos der Türe zu. „Weil“, fuhr er rufend fort, „weil du, wenn du jetzt nicht gehen würdest, ja nicht wiederkommen könntest.“ Das alte Holz ächzte mit einem dumpfen Laut über die Mosaikfliesen. „Nach Hause!“, schrie er beinahe. „Weil du, wenn du jetzt nicht gehen würdest, du ja nicht zurück nach Hause kommen könntest!“
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