Jakob war ein kleiner Junge, ein schmächtiges Kerlchen von fast fünf Metern Körperhöhe. Jakob arbeitete im Amt für Vermessungsangelegenheiten in der großen Stadt. Seine Familie lebte etwas außerhalb auf dem Schwalbenhof, einem alten Bauernhof aus der Zeit, als die Friesen noch kurz vor der Weltherrschaft standen. In Jakobs Freizeit goss er leidenschaftlich Zahnräder. Diese baute er, wenn sie vollendet waren, in die große Maschine.
Die große Maschine. Jakob hatte sie zum ersten Mal gesehen, als er gerade wenige Tage in seinem Job war. Sein Chef, ein Hühne mit drei Meter Brustumfang und Oberarmen so dick wie die Mammutbäume, die Jakob in dem alten Almanach der Seefahrer gesehen hatte, der bei seiner Oma auf dem Speicher lag, brauchte einen Assistenten. Mit einem Gabelstapler lud Jakob die große Ölkanne auf eine der Kutschen, dann fuhren er und sein Chef los in den alten Stollen. Der Stollen führte unter die Dünen, der sandige Boden rieselte beständig von der Decke und wurde vom uralten Gebläse der großen Maschine wieder an die Oberfläche transportiert.
Jakob fröstelte, als er dort auf dem Kutschbock saß und zusah, wie der große Reiher die Kutsche weiter hinab ins sandige Reich der Maschine zog. Sein Chef erzählte von den Seefahrern, den großen Friesen, denen das metrische System noch herzlich egal war.
"Drauf gefurzt ham se damals!" meinte sein Chef mit einem Lachen und biss von dem achtzig Zentimeter dicken Butterbrot ab, dass ihm seine rundliche Frau geschmiert hatte. Jakob mochte die Ausdrücke nicht, die sein Chef benutzte.
"Warum müssen wir heute gegen das metrische System kämpfen?" fragte Jakob seinen Chef, um ihn in die Welt der Fachausdrücke zurückzuholen.
"Weil die größe Maschine in diesem System nicht funktionieren würde, Jakob," wiederholte sein Chef eifrig zum tausendsten Mal, seit Jakob die Stelle im Amt angetreten hatte, "die Maschine erschafft ihre eigenen Gesetze, unser friesisches System."
'Den Friesisch kommt von frei,' ergänzte Jakob in seinem Kopf, während der Chef versuchte, trotz vollem Mund weiterzuspechen.
"Die Welt mag unser System nicht, aber sie müssen irgendwann erkennen, dass dies alles nur so funktioniert, wie es die große Maschine vorgibt...mhffgp..." sein Chef machte einen unappetitlich schmatzenden Ton, "wie groß wärest du nach dem metrischen System, Jakob?"
"Ein Meter dreiundzwanzig," entgegnete Jakob.
"Siehste... mit so etwas kann die Maschine nichts anfangen. Sie würde ich für klein halten, Jakob, findest du das richtig?"
Jakob schwieg.
Ein paar Tage später saß er bei seiner Oma auf dem Speicher des Schwalbenhofs und röstete Maronen in einer Pfanne.
"Bin ich groß, Oma?" fragte er plötzlich, und seine Oma drehte sich mit zusammengekniffenen Augen langsam zu ihm, wobei die Sprungfedern in der Katapultvorrichtung ihres Rollstuhls gefährlich knarzten.
"Was denkst denn du?" fragte sie.
"Ich weiß es nicht. Die Maschine sagt, ich bin groß, aber die Welt dort draußen," Jakob machte eine große Geste aus dem Fenster, "die würde mich für klein halten, wenn sie mich überhaupt bemerken würde."
"Du glaubst also, Größe hat etwas mit dem Standpunkt zu tun?"
Jakob dachte an die Seefahrer und die Weite des Meers, an seine kleinen Zahnräder und die große Maschine. Er füllte sich einige Maronen in eine Tüte und ging raus auf die Düne. Dort stand er und beobachtete die Wellen, die große Maschine pulsierte tief unter seinen Füßen.
Jakob war ein kleiner Junge, ein schmächtiges Kerlchen von fast fünf Meter Körperhöhe. Und manchmal, wenn er wollte, war er einen Meter dreiundzwanzig groß und ein Riese.
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Dieses Rauschen im Telefonhörer war von seltsamer Natur. Gleich nachdem er den Hörer abnahm, hörte er dieses leise Knistern, das er vom Radio kannte, wenn man die Frequenz auf der Mittelwelle zwischen den Sendern einstellte, wo keinerlei Radio empfangbar war, aber etwas, was den Begriff Äther akustisch formte, ihm Gewicht verlieh. Ein sanft flirrender Raum aus Knacksern, Rauschen, 3D-Tonmolekülen im Tanz des Nirgendwo. Das Rauschen hielt ihn am Hörer, wäre nur Nichts gewesen, er hätte sicher aufgelegt, aber dies war mehr als Nichts und umgab ihn augenblicklich. Er hörte hinein in die fraktalen Strukturen des Zirpens, Flötens und einiger hölzerner Tapser im Hintergrund. Töne gaben sich mit Geräuschen die Klinke in die Hand, Sinusschwingungen formten ruhige Bögen über dieses Tonnirwana, in das er sich hörend immer weiter hinein vertiefte. Die Außenwelt verschwand langsam, und seine Gedanken kreisten um dieses Rauschen. Woher kam der Anruf? Wer hatte ihm diese Kraterwelt aus Oszillationen bereitgestellt? Seine Hand umkrampfte den Hörer fester, er versuchte sich zu konzentrieren. Aus den eher nicht wesenhaft wirkenden Geräuschen kristallisierte sich nach und nach eine regelmäßige Bewegung, ein Hauchen, das er erst nach Minuten einer menschlichen Stimme zuordnen konnte. Doch dies war kein Atmen oder Hecheln, keine bekannte Regung. Ihm war, als sei er in einen ruhig daliegenden Menschen eingestiegen, dessen Atmung er nun von innen wahrnahm, ruhig hebend und senkend. Nah dabei und die Wärme des Körpers spürend und doch in der akustischen Wirkung unendlich fern, wie man einen Windhauch an einem Berghang spürt, den man gerade noch verfehlt. Aus unerfindlichen Gründen ließ man ihn teilhaben an diesem anderen Leben. War es überhaupt ein Leben? Hörte er über den so elend materiellen Telefonhörer nicht gerade in eine Mondlandschaft der Seelen hinein? Alle schienen anwesend, niemand sprach, nur die Geborgenheit der stetig präsenten Luftsäule vermittelte ihm die Botschaft: DU bist da, du bist angekommen, sei willkommen. Er schloß die Augen, schaltete die Welt ab. Die Geräuschplaneten umkreisten ihn immer sanfter und doch eindringlicher. In der Auflösung seiner Gedanken verwandelte sich der Hörer in ein Staubkorn, gleichzeitig fing seine Hand an zu brennen, als würden ihn die ostinaten Geräuschfiguren immer wieder, immer öfter stechen. Für Gedanken war keine Zeit mehr. Gleich einer Saltofigur eines Turmspringers wurde er in einer einzigen rasanten Bewegung in seine eigene Hand gesogen. Im Wohnungsflur pendelte die hörerlose Strippe des Telefons noch einige Male über dem Boden und stand dann still. Seine Reise hatte begonnen.
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Dieses Rauschen…
… zwischen meinen Rippen, unter meiner Bauchdecke, hinter meinen Augäpfeln, erst ein sachter Ton, nur ein nervöses Zucken, dann eine immer aufdringlich werdende Präsenz, die meinen Verstand, meine Klarheit, mein Denken befällt wie ein gefräßiger Parasit.
Die Stunden vergehen in quälender Langsamkeit, kleben mir am Gaumen, wollen sich nicht hinunterschlucken lassen. Jede einzelne würge ich hinunter, äußerlich in lethargischer Ruhe, innerlich zerfetzt in alle hundert Wenn und Aber, die zusammen dieses Rauschen ergeben, dieses Rauschen, dieses unerträgliche Rauschen. Warum meldest du dich nicht, antwortest mir, meiner Sehnsucht, seit unzählbaren Stunden nicht? Was tust du, jetzt, gerade in diesem Moment? Bist du so beschäftigt, dass du mir nicht einmal ein Wort, eine Silbe, eine einzige Zeile schicken kannst? Arbeitest du? Sitzt du mit wichtigen Herren in wichtigen Anzügen an wichtigen Tischen und führst wichtige, teure Gespräche? Oder… bist du bei ihr…
… sie, diese mir gesichtslose Frau, mit der ich mir die Härte deines Schwanzes teilen muss und die ich für jeden Augenblick, den sie mit dir haben darf - mir geraubt, mir fortgenommen, meiner Zeit mit dir entrissen - unkontrollierbar und freudig hasse, weil ich dich dann nicht hassen muss, für das, was du mir antust. Weil ich dich dann auch noch lieben kann, wenn der Schmerz mich von innen her auffrisst. Weil ich mich auch dann noch für dich und vor dir ausziehen kann, obwohl ich weiß, dass ich dir kaum mehr bin als die überaus geile, gut fickbare Gelegenheitshure. Zahlart: Schweiß und Sperma - keine Belastung deiner Kreditkarte, nicht steuerrechtlich absetzbar.
Die Stunden, alle die Stunden, in denen ich an dich dachte. Alle die Stunden, in denen ich unter meinen eigenen Händen aufstöhnte, mir vorstellend, es wären deine. Alle die Stunden, in denen ich Bilder heraufbeschwor, Bilder von dir und mir, Hand in Hand durch die Stadt spazierend, lachend, plaudernd, scherzend, mit Liebe im Blick und stummen Einverständnissen im Bauch, mit zweifelsfreiem Wissen dort, wo es jetzt, jetzt, genau jetzt rauscht. Rauschen. Nichts als dieses Rauschen. Dieses Rauschen.
Alle die Stunden, die ich wartete. Wartete. Warten…
… worauf? Warten worauf? Sag es mir! Worauf warte ich? Sag es mir! Sag es mir! Worauf warte ich? Ich… sollte damit aufhören… mit dem Warten… mit diesem Warten… warten… worauf warte ich? Worauf?
Dezember 2007 ... link
Dieses Rauschen, Spezialdisziplin in der Physik, versetzt Toningenieure in orgiastische Zustände oder aber Wahnsinn, und ist für mich schlichtweg indifferent. Ob rosa, weiß, Klang der Blätter, oder das Blitzen in meinen Ohren wenn ich erhitzt nach einem Tanz mit dir in einen Sessel falle.
Dieses Rauschen, scheint in mich hinein, wandelt als Ameisenvolk durch meinen Magen, verlässt zierlich meine Ohrmuschel und lässt Blitze in meinen Hirn umher schlagen, aus meinen Augen hinaus, direkt auf dich zu. Schwingungen, Zittern, zwischen dir und mir. Risse im abgewetzten Boden, frisch und energetisch.
Schließe die Augen, höre zu, hör’ gut zu. Es durchdringt uns, noch, aber strebt schon fort. Du und ich, ein Rauschen, wir. Nur ein Augenblick. Ich sage es dir, gleich, sofort. Denk an das Zerfallen. Der Rausch endet, zerbricht.
Dieses Rauschen, Atem, Stöhnen. Fühl den Schrei, für dich.
Dieses Rauschen, du schlägst es in mich, wuchtest es als geballten Schlag, direkt. In mir pulsiert es, wabernder, aber immer noch zielgerichtet.
Ich weiß, dein Herz schlägt im selben Takt. Die selben Blitze toben in deinem Hirn. Ich weiß es, ich sehe sie aus deinen Augen schießen.
Dieses Rauschen, ich sehe es kommen, ich höre es kommen.
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