Mittwoch, 2. Mai 2007


Rederich von Wortenreich oder die Kunst, sich selbst zu überwinden

"Kleinbloggersdorf (dpa) In der Nacht kam es erneut zu kreativen Zusammenstößen zwischen den Vertretern der Sentimentalblogger und der Front der Faktenblogger, bei denen es zum Glück keine Verletzten gab."

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„Die Kloggs mal wieder“ Rederich warf die Zeitung mit einem seiner vernichtenden Schnaufer auf den Tisch, für die er bekannt und gefürchtet war. Einer dieser Schnaufer konnte verdammen oder erhöhen, ganz wie es ihm, Rederich von Wortenreich, Bürgermeister, pah – König! Ungekrönt, trotzdem demokratisch! - von Großbloggersdorf, genehm war.
Seine holde Gattin blinzelte über die morgendliche Tafel hinweg und kräuselte beredt die linke Augenbraue.
Rederich hielt mit seiner wohlbekannten Meinung nicht länger hinter dem Berg.
„Kreative Zusammenstöße, das ich nicht lache! Die bepinseln ihre Worthülsen mit aggressiven Farben und meinen, damit einen Krieg schreiben zu können. Nichts bekommen sie hin, gar nichts! Was ist daraus geworden? Eine Auseinandersetzung, eine kleine niedliche Auseinandersetzung. Hah! ‚Zum Glück gab es keine Verletzten’ - Ich lache noch einmal, hörst du? Hah! Hah! Hah! Wenn ich mich an die feurigen Dispute erinnere, die wir hier geführt haben, bevor man mich zum Bürgermeister erwählt hat, das waren ganz andere Kaliber. Die lagen in der Größenordnung der aufregenden Debatte, ob die Erde rund ist oder nicht. Da drohten noch Scheiterhaufen, Schmach, Schimpf und Schande. Das waren noch Dimensionen, die diese kleinhirnigen Kloggs hinter dem Dunkelwald nicht einmal ansatzweise begreifen können! Von wahrer Größe haben sie keinen blassen Schimmer. Immer wühlen sie in ihren armseligen Leben herum, machen es zu Bühnenstücken für überreizte Leser, die schon lange das Interesse an Wahrhaftigkeit verloren haben. Und dann kommt die Fakten beflissene Opposition vorbei, die die es besser wissen sollten - und anstatt den Weg zur wahren Größe zu ebnen, lassen sie sich auf die satirischen, ironischen Scharmützel ein und verlieren in diesen Schlammschlachten jedwedes Rückgrat! Pah! Hauptsache witzig sein, Hauptsache ironisch sein, Hauptsache UNTERHALTEN! Das Zwerchfell muss ja erschüttert werden! “

Die holde Gattin befand sich auf dem Weg in die Orangerie, als Rederich seinen Zorn über derlei Kleingeist noch immer über die inzwischen sonnenweiche Butter und den zerlaufenden Käse ergoss. Es waren immer die gleichen Worte, die er aus einer dunklen, tief in sich verborgenen Kammer herausholte – doch selbst nach dreißig Jahren verschloss sich ihr der Grund. Ich höre die Worte, doch ich verstehe nicht ihren Sinn, dachte sie versonnen. Aber Eile mit Weile, es wird sich alles entdecken. Verstehen kennt keine Hast.

Als sie ihre intime Zwiesprache mit den Pflanzen beendete, begab sie sich auf den Dachboden des alten Palais, in das er sie nach einer prunkvollen, ganz und gar traditionellen Feier entführt hatte und vertiefte sich erneut in die Studien der Überbleibsel seiner Familie. Er hatte es zu Beginn ihrer Ehe angeregt – und da sie nichts anderes zu tun hatte, richtete sie diesem seinem Wunsche einen festen Platz in ihrem Leben ein.
Unter einem kleinen verborgenen Fenster hatte sie sich eine gar traute Leseecke eingerichtet. Ein umfangreiches Kompendium, wahllos herausgegriffen aus dem Wust des universellen Wissens, gehegt und gepflegt von derer zu Wortenreichs, lag schwer auf ihrem Schoß. In der Tat, hier waren Worte der Erhabenheit zusammengebracht worden, auf das sie einander auf das erquicklichste befruchteten, hier waren die großen Philosophen am Werk. Sie flüsterten von den Gestaden der Zeit zu ihr herüber, luden sie zu ihrem Zirkel ein, forderten sie und reizten mit der Befriedigung eines gelösten Theorems. Sie las aufmerksam, blätterte Seite um Seite um und um und gab sich ganz dem Denken hin.
Irgendwann jedoch merkte sie, wie sich der Staub der hehren Erkenntnisse über ihren Geist legte. Müde wurde das Hirn, müde wurden die Augen und taub wurden die Beine, auf denen diese Ansammlung schwerer Kost lagerte. Was war Wissen, wenn es die Lust erstickte, mehr davon zu erhaschen? Tot, dachte sie beiläufig. Da vergisst man schnell, dass man noch lebt. -Höchst ketzerisch waren diese Gedanken, wenn Rederich das wüsste, ach, herrjeh! Erschrocken hielt sie den Atem an. Derart hochgefahren aus erkenntnisüberladenen Betäubung packte sie die Neugier – welches würde wohl das letzte Wort sein, das auf diesen Seiten der Ewigkeit harrte? Das letzte Wort ist immerhin so wichtig, wie das erste und so war ihre Neugier durchaus zu verstehen – und vielleicht, mit Großzügigkeit bedacht, sogar zu billigen.
Mit frischem Mut schlug sie des staubigen Schinkens letzte Seite auf – und stutzte. Da war nichts. Ein leeres Blatt – bei denen von Wortenreichs? Undenkbar! Wem mochte dieses buch gehören, wer hatte hier die Familientradition missachtet? Ein Blick auf den Buchrücken ließ ihre linke Braue wieder beredt gen Scheitel wandern. Danach blätterte sie hin und zurück, Seite für Seite, bis sie die bedeutsamen letzte Worte fand. Gespannt las sie sie. Runzelte die Stirn. Las sie erneut. Schmunzelte. Lachte schließlich laut heraus und vertiefte sich angeregt in die pikante Lektüre.

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„Ich bin nicht erfreut“ grollte Rederich. „Ich weiß nicht, warum ich mich zu diesem Affentheater überhaupt habe überreden lassen! Wenn das meine Vorfahren erleben müssten!“
„Schimpf und Schande über dich, Liebster.“ Die holde Gattin zwinkerte ihm verschmitzt zu. „Aber was würden sie sich wohl denken, wenn sie die letzten Kapitel deiner Niederschrift zu hören bekämen? Ich habe selten so ein in sich belangloses, aber ungemein spritziges Tagebuch wie deines gelesen. Eigentlich sollte man es der Öffentlichkeit nicht vorenthalten…“ Süffisant fächerte sie sich mit einem Manuskript Kühlung zu.
Rederich von Wortenreich verstummte eindrucksvoll. Dann trat er auf das Podest auf dem Kleinbloggersdorfer Marktplatz, um der Anführerin der Sentimentalbloggern und dem Sprecher der Liga der Faktenbloggern zu der Beilegung ihrer Streitigkeiten zu gratulieren. Zudem bot er beiden Parteien an, als Schlichter in künftigen Zwistigkeiten zur Verfügung zu stehen und feuerte ganz Kleinbloggersdorf an, weiterhin einer derart lebendigen Schreiberei zu frönen, auf dass das Bloggen an sich niemals den Spass aus den Augen verlieren möge.

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