Donnerstag, 3. Juli 2008
Heringe

Natürlich war er wütend über sich. Er hätte auf so viele Arten reagieren können, im besten Falle sogar überhaupt nicht, aber nichts besseres war ihm eingefallen, als eine spöttische Bemerkung zu machen um sich dann über den eigenen Witz vor Lachen auszuschütten. Sogar noch als sie sich schweigend erhob und in ihre Sachen schlüpfte, sich dabei in den Trägern des Büstenhalters verheddernd, lachte er. Auf der Suche nach ihren Schuhen verließ sie schließlich den Raum. Er stand leise glucksend da und nur zögernd wich die Erheiterung von seinem Gesicht. Und dann war es plötzlich still in der kleinen Wohnung. Er lauschte in den kurzen Flur hinaus, hörte jedoch nichts als seinen eigenen, vom Lachen noch immer rasch gehenden Atem.

Er rief nach ihr, mehr eine irritierte Frage als eine Aufforderung. Sie antwortete nicht und er hatte keine Ahnung, wo sie war und was sie tat. Der Flur lag dunkel da, nur ein schmaler Lichtstreifen unter der Küchentür hindurch verlieh ihm Kontur. Erneut rief er ihren Namen und wieder antwortete sie nicht. Er hatte ihr Gesicht vor Augen, wie sie ihn so sanft angesehen hatte, als sie gerade eben noch vor ihm lag, die Arme ihm entgegengestreckt, die Schenkel leicht gespreizt. Er war im Begriff, sich das Hemd abzustreifen, als sie ihm die Worte zugeflüstert hatte, welche so im Hals kitzelten. Nackt war sie dagelegen, sich ihm anbietend und wartend auf seine Hände, seinen Mund, seinen erregt verhärteten Penis und während er darüber nachdachte, in welcher Stellung er zuerst in sie eindringen solle, sagte sie es. Erst hatte er gar nicht richtig begriffen, was sie gesagt hatte, vielleicht weil es so gar nicht zu ihr passte. Wild war sie und lebendig, dabei ungestüm und zügellos. Und voller Unruhe war sie. Ein unruhiges Bündel Energie, mal in grelles Licht getaucht, so dass man kaum hinsehen konnte und dann unverhofft fast hinter plötzlich über sie hereinfallende Schatten verschwunden, von denen niemand wusste, aus was sie gemacht waren, außer sie selbst. Und bei allem, was sie war, wie sie war, war sie vor allem wie der Wind: heute hier, morgen da, niemandes Kind und nirgendwo daheim.

Vorsichtig öffnete er die Tür zur Küche. Sie saß mit dem Rücken zu ihm auf einem der Stühle dicht am Fenster. Im schwachen Schein des Lämpchens direkt oberhalb der Kochplatte erinnerten ihn ihre mitten im Raum liegenden Sandalen an Heringe, gestrandet und verendet auf dem Fußboden seiner winzigen Küche. Ihm fiel ein, wie er nach der Schere gesucht hatte, als sie sich einmal die Füße wund gelaufen und beim Ankleiden die Blessuren entdeckte hatte. Wie sie gelacht hatte, als sie genau an derselben Stelle gesessen hatte wie jetzt. Kurz zuvor hatten sie noch nebeneinander auf seinem Bett gelegen, gefangen in gemeinsamer Lust. Danach waren sie eingedöst, sich kaum berührend, aber doch nah genug, den anderen zu spüren. Sie hatte die Decke über ihn gezogen, erinnerte er sich plötzlich. Er war beinahe fest eingeschlafen, als sie sich plötzlich aus der Bettdecke schälte und ihm die Hälfte bis unter das Kinn über den nackten, nach dem Liebesspiel langsam auskühlenden Körper gelegt hatte. Später dann war sie lachend das Treppenhaus hinunter gehüpft, hatte Faxen gemacht, gescherzt und war in großen Schritten neben ihm her gesaust. Das mit der Bettdecke, das war doch nichts, über das er sich den Kopf hätte zerbrechen sollte. Oder doch?

Im Spiegelbild des Küchenfensters wirkten die Schatten unter ihren Augen wie die Ankündigung des Endes einer tödlichen Krankheit. Er machte einen Schritt auf sie zu und blieb mit einem Fuß an ihrer Sandale hängen. Das leise Geräusch veranlasste sie, abweisend die Hand zu heben. „Nein. Schon gut.“, sagte sie leise und der Klang ihrer Stimme war heiser. „Es tut mir leid...“ setzte er an, aber wieder hob sie die Hand. Er wusste nichts mehr zu sagen und sie sagte auch nichts weiter.

Sie war fast unten an dem hölzernen Eingangsportal angekommen, als er ihren Namen rief. An den vielen Windungen des Treppengeländers vorbei betrachtet, wirkte ihr Gesicht winzig, wie das eines kleinen Kindes. „Es ist gut, dass du jetzt gehst!“, rief er hinab. Einen Augenblick verharrte sie regungslos, dann drehte sich sie wortlos der Türe zu. „Weil“, fuhr er rufend fort, „weil du, wenn du jetzt nicht gehen würdest, ja nicht wiederkommen könntest.“ Das alte Holz ächzte mit einem dumpfen Laut über die Mosaikfliesen. „Nach Hause!“, schrie er beinahe. „Weil du, wenn du jetzt nicht gehen würdest, du ja nicht zurück nach Hause kommen könntest!“