Sonntag, 8. Juni 2008
Die Suche nach dem Intro

Sie waren besser angezogen. Ihre schwarzen Anzüge glatt und sauber, die weißen Kragen in strahlenden Rüschen, die Zylinder stramm und heroisch auf ihren Häuptern. Sie zogen vorbei, von Ballsaal zu Ballsaal, von Buffet zu Buffet und Trauerfeier zu Trauerfeier.
Wir lagen in unseren abgewetzten roten Uniformen auf den faserigen Holzdielen, die rostigen, einst vergoldeten Knöpfe hielten nur noch mit letzter alternder Kraft. Der Staub rieselte vom alten Canapé, als sie ihre schmale Hand in den weißen Samthandschuhen auf die Lehne legte und sich hochzog. Ihre blonden Strähnen fielen ihr in die Stirn. Ich richtete mich neben ihr auf und rückte die goldenen Schulterstücke zurecht.
Sie sah den Männern und Frauen in den schwarzen Anzügen zu, die im Zeitraffer an uns vorbeizogen. Ihre Augen verloren in der unscharfen Masse. Ich sah sie von der Seite an und streckte meine Hand aus, doch bevor meine Finger ihren Nacken berühren konnten, drehte sie sich zu mir.
Ich starrte auf die Marmorstatue im Erker. Meine Hände in den Taschen meiner Jacke, meine Augen tränend vom blendenen Licht, das durch die blinden Fenster die staubige Luft schnitt. Sie bewegte sich neben mir, während meine Sicht durch die vorbeirauschenden schwarzen Anzüge getrübt wurde. Sie nahmen mir das Licht, brachten meinen Blick dazu, weiter starr geradeaus zu starren. Im Dämmerlicht der vorbei eilenden Schemen sah ich ihre Bewegungen aus dem Augenwinkel. Ich sah ihre Hand, sah sie den Handschuh abstreifen.
Ich stand auf und ging um das Canapé. Ich setzte mich auf eine Seite, weit genug von der Mitte entfernt um ihr Platz zu lassen, ihr keine Nähe aufzudrängen. Während ich den mechanischen Puppen zusah, die einer Marschkapelle gleich an uns vorbeizogen, ihre Instrumente spielend, jeder in einem anderen Rhytmus, stand sie auf und setzte sich ebenfals. Weit genug von der Mitte entfernt um mir Platz zu lassen.
Ich stand auf. Die vorbeiziehenden Puppen glichen ihren Takt an. Ihre Uniformen verblichen und rot wie die unseren. Ich ging ihnen ein Stück nach. Der Takt verblasste wieder. Als ich mich umdrehte, war sie bereits aufgestanden. Ich sah sie die schwarzen Massen aus verwischten Anzügen durchqueren und folgt ihr.
Auf der anderen Seite schien das Licht. Sie ging auf die blinden Fenster zu, ihre goldenen Strähnen wurden zu Asche, ihre Gestalt schmolz in der geleißenden Helligkeit. Ich blieb stehen und sah zu der Marmorstatue, hinter deren Sockel sie verschwand. Zitternd atmete ich ein und folgte ihr in das brennende Licht. Ich spürte, wie meine Uniform in silbernen Flammen stand, mein zerzaustes Haar den Wind spürte.
Einige Augenblicke lang war alles aus Glas. Die Statue hinter mir zersprang, die mechanischen Puppen fielen in einen grollenden Rhytmus. Feen in weißen Kleidern spielten ihre Geigenbögen auf halbvollen Weingläsern. Ein rollender Bass schlug durch die blinden Fenster. Das Glas splitterte.
Als der ohrenbetäubende Wasserfall aus Scherben versiegte, hallte das Rauschen in unseren Ohren nach. Das leere Weiß verebbte und ich spürte ihre Hand in den Ärmel meiner Uniformjacke gekrallt. Der Staub legte sich auf unsere Gesichter, auf unsere Kleidung und Haare, während auf der anderen Seite des Canapés die Massen an schwarzen Anzüge vorbeihuschten.
Sie waren besser angezogen als wir. Und wir beide wussten, daran wird sich niemals etwas ändern.